
9. Kapitel
Ela blickte auf die verfallene Villa, an der sie immer vorbei kam, wenn sie von ihrer Wohnung zu Ralle rüber ging. Es handelte sich um ein imposantes dreigeschossiges Gebäude mit Erkern an den Seiten, Terrassen nach vorne zur Straße hin und auch zu beiden Seiten. Der Vorgarten war vollkommen zugewuchert und an der Fassade hatte sich Efeu bis kurz unter die Dachkante hochgearbeitet. Am Sockel war zwischen alle dem Grün noch blass der Spruch „Besetzt – Kampf den Spekulanten“ zu erkennen. Tatsächlich, Ela konnte sich noch dunkel daran erinnern, hatte hier Ende der Siebziger Jahre eine der wenigen Hausbesetzungen in dieser Stadt stattgefunden. Linke Aktivisten, Autonome, hatten sich der damals schon leer stehenden Immobilien bemächtigt und waren nach drei, vier Wochen von einem Großaufgebot von Polizisten aus dem Haus geprügelt worden. Ela, auf deren damaligen Schulweg das Haus lag, hatte sich damals, gerade einmal zehn Jahre alt, sich verwundert die bunten Laken angeschaut, die während der Besetzung aus den Fenstern gehängt worden waren. Seither war mit dem Gebäude nichts mehr geschehen, außer dass es langsam, aber sicher zugewuchert war. Immer wenn Ela hier vorbei kam, empörte sie sich über diese dieses Einfach – Verrotten – Lassen dieses Hauses.
Anders als sonst klingelte Ela. In den letzten Tagen hatte Ralle mehrmals auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, sie möge sich doch mal melden und gestern hatte er ihr sogar einen Zettel in den Briefkasten geschmissen, dass er da gewesen sei, und dass er Sehnsucht hätte und dass es Scheiße sei, dass sie sich nicht melden würde. Ela stand nun schwer davor, irgendwie war da der Wurm drin, in dieser Beziehung und sie war unschlüssig, wie das alles weiter gehen sollte. Ralle lief einfach alles so weiterlaufen, interessierte sich für nichts und war auch keine Hilfe in so einer Situation, in der Ela jetzt steckte. Der Türöffner surrte und Ela schob die schwere Holztüre auf. Sie wusste, Ralle würde jetzt oben an der Wohnungstür stehen und vielleicht hoffen, dass sie es ist. Sie ging langsam den Flur entlang, bis zur Treppe, die nach oben führte. Ralle stand tatsächlich an der Tür, sie ging die Stufen langsam hoch und als sie oben angekommen war, nahmen sie sich kurz in den Arm. „Hey“ sagte Ralle, „wurde aber auch Zeit, dass du auftauchst“. „Ich will erst mal rein“, sagte Ela und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung.
Ralle sah aus wie immer: eine seiner zerfetzten Jeans, ein altes schwarzes Sweatshirt, was bestimmt auch schon mindestens zehn Jahre auf dem Buckel hatte und seine ausgelatschten Ledersandalen. „Na, Du Alkoholiker“, sagte Ela, nachdem sie ihre Tasche abgestellt hatte, ihre Jacke auf den Wasserkasten im Flur gelegt hatte und in der Küche Platz genommen hatte: „Wie es hier wieder aussieht!“. Küchentisch und Küchenzeile waren vollgestellt mit benutzten Geschirr und Besteck. Leere Nudelpackungen, geöffnete Marmeladengläser, eine Toastbrot-Packung, aus der die Scheiben auf den Tisch herausgekippt waren und Töpfe mit eingetrockneten Essensresten. „Hey, du bist doch nicht die Frau von der Fürsorge, lass mich doch, werde schon aufräumen, heute, heute Nachmittag“, sagte er mit beschwichtigendem Tonfall. „Wie geht’s dir, ich hab gedacht, Du tauchst gar nicht mehr auf, was war los mit dir, das war ja ne Aktion am Freitag, was war denn in dich gefahren“, er hatte sich ihr gegenüber an den Küchentisch gesetzt, den Ellenbogen auf dem Küchentisch und seinen Kopf in der Handfläche abgestützt. „Du säufst zuviel, das ist alles, das ist nicht mehr feierlich, Ralle, und ich meine das ernst: Du bist´n echter Alki“. „Ach Quatsch, es war jetzt ein bisschen viel, aber das war doch nur ne Ausnahme“, er war aufgestanden, hatte seinen Stuhl um den Küchentisch herum neben den ihren gezogen und setzte sich nun direkt neben sie: „Ich hab dich vermisst“ sagte er leise, während er sich dicht neben ihr nieder ließ. Er legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich habe dich sehr vermisst“. „Immer, wenn ich dich brauche, bis du nicht da, das ist es doch“, entgegnete sie, ohne sich auf seinen zärtlichen Tonfall einzulassen. Sie spürte ihn gern und obwohl er immer seine abgerissene Kleider trug, roch er immer sauber, ein angenehmer Duft, der von ihm ausging.
„Meine Großmutter wird sterben, sie stirbt, sie wird gerade umgebracht, wir bringen sie gerade um“. „Was redest du da, ich denk, sie hat sich gefangen, da im Altenheim, was ist denn los?“, fragte er nun nach, während er seinen Kopf etwas von ihr entfernte, seinen Arm aber nicht von ihrem Körper löste. „Morphium, sie geben ihr Morphium und zwar so, dass sie langsam, aber sicher krepiert. Sie wird nicht mehr zu sich kommen, der Doktor weiss Bescheid: Es wird höchstens noch ein paar Tage dauern. Sie liegt da, regungslos, total “ „Morphium ist gut, Morphium wird zu Unrecht verdammt, das hab ich erst gerade gelesen, irgendwo in so einem schlauen Artikel. Die große Angst, dass es abhängig macht, ist total verfehlt und es ist einfach die beste Möglichkeit, Qualen zu vermeiden, gerade, wenn es zu Ende geht“. „Aber das ist doch genau der Punkt: Es geht nicht zu Ende, nur mit dem verflixten Morphium geht es zu Ende“, entgegnete Ela jetzt genervt, weil sie den Eindruck hatte, dass Ralle die fundamentalsten Dinge nicht begriffen hatte. „Deine Oma ist alt und ich glaube, sie will auch nicht mehr und so ist es doch gut, dass es eine Möglichkeit gibt, dass sie nicht irre lange kämpfen muss, sich quält.“ Ralle versuchte, sich ihr wieder zu nähern, er rückte mit seinem Kopf dichter an sie heran, seine Hand strich an Elas Oberarm entlang. „Das ist gut für Deine Oma, glaub mir. Und da ist keiner, der sie umbringen will: Das ist doch Quatsch! Du willst sie nicht umbringen, Deine Mutter und Renate nicht und der Arzt auch nicht“, sprach er ihr eindringlich ins Ohr. „Es ist traurig, dass sie stirbt, aber das ist nun mal so: irgendwann ist es zu Ende“. „Ich war bei Dr. Heinen“, entgegnete Ela jetzt, „der redet wie du!“. Ela war erschöpft, die letzten Tage hatte sie in einer permanenten Spannung verbracht, nun hatte sie den dringenden Wunsch, sich auszuruhen, Entspannung zu finden. Sie neigte ihren Kopf ihrem Freund entgegen bis sich ihre Köpfe berührten. Ihre Haare strichen aneinander, bis sie sich zueinander wandten und sich zunächst ihre Wangen fanden bis ihre Lippen sich trafen. Ela war froh, bei Ralle zu sein.