Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

8. Kapitel

Drei Generationen waren in dem Raum versammelt, jede in ihrer Doppelfunktion: Mutter und Großmutter, Tochter und Mutter, Tochter und Enkelin. Die Älteste der drei Frauen lag regungslos in ihrem Seniorenheim-Bett. 1921, drei Jahre nach dem ersten Weltkrieg war sie, Magdalena Möller, im Rheinland geboren, war als junge Frau nach Köln gekommen und hatte als Näherin in einer Fabrik gearbeitet. Während des zweiten Weltkriegs war sie in eine Munitionsfabrik gewechselt. Nach dem Krieg, als die ehemaligen Wehrmachts-Soldaten aus den Gefangenenlagern zurückkehrten, hatte sie ihren späteren Ehemann, Wilhelm Rasche, kennen gelernt. Bereits nach kurzer Zeit heirateten sie und wenig später, 1947, wurde die erste ihrer beiden Töchter, Renate, geboren. Drei Jahre später kam Hannelore zur Welt. Wilhelm Rasche war in einem jener Unternehmen tätig, das in den Aufschwungjahren der Nachkriegszeit, während des Wirtschaftswunders, stark expandierten. Nach einigen Jahren verließ die Familie die große Stadt Köln, weil in einer Provinzstadt, 200 km entfernt, eine Niederlassung des Unternehmens gegründet wurde und der Ehemann dort eine leitende Funktion übernahm. Aufgrund eines stattlichen Einkommens konnte die Familie Ende der Fünfziger Jahren ein großes Zweifamilienhaus bauen. Die vierköpfige Familie wohnte im Erdgeschoss und konnte den großen Garten nutzen, die erste Etage wurde an eine Frau vermietet, die im Krieg ihren Mann verloren hatte und nun von einer Hinterbliebenenrente und eigenem Vermögen leben konnte.

1969 brachte Renate als Folge der Irrungen und Wirrungen der Studentenrevolte Michaela zur Welt. Renate, damals gerade zweiundzwanzig Jahre alt, war zwar keine Studentin, sondern als Schreibkraft bei einem Notar angestellt, hatte aber unter ihren ehemaligen Mitschülern Freunde, die nun in anderen Städten studierten und gelegentlich nach Hause kamen und ihre alten Kontakte pflegten. Aus einer dieser Wochenend-Bekanntschaften ging Michaela hervor. Die Beziehung ging, noch bevor sie richtig begonnen hatte, in die Brüche und Michaela wuchs also bei ihrer Mutter auf. Da die ehemalige Mieterin im Obergeschoss gestorben war, bezog Renate mit ihrem Kind die obere Etage. So konnten die Großeltern, vor allen Dingen die Großmutter, auf die kleine Michaela aufpassen, wenn ihre Mutter arbeiten musste. Michaela hatte gute Erinnerungen an ihre Kindheit. Die Oma war immer für sie da gewesen, hatte sich liebevoll um sie gekümmert, und sie mit allem versorgt, was sie brauchte. Ihr Lieblingsplatz war auf dem Sofa gewesen, das in der Küche stand. Von dort konnte sie der Großmutter zusehen, wie sie am Herd und am Küchentisch das Essen zubereitete und gleichzeitig hatte sie einen guten Ausblick in den Garten, auf die Obstbäume, die darin wuchsen, die Büsche, die im Frühjahr und Sommer üppige Blüten hervorbrachten und die Hecken, die den Garten von den Nachbargrundstücken trennte. An ihren Großvater hatte sie nur wage Erinnerungen. Mitte der Siebziger Jahre, als Michaela gerade in die Schule gekommen war, war er plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben und Michaela konnte sich noch genau erinnern, wie traurig ihre Großmutter in der Folgezeit gewesen war und wie sie immer, auch während sie das Essen zubereitete und den Haushalt führte, an zu weinen begann und immer wieder sagte: „Meine liebe Michaela, jetzt hab ich nur noch Dich“. 

Jetzt war ein leises Stöhnen vom Bett zu hören. Tochter und Enkelin saßen seitlich am Bett. Das Gesicht der Großmutter bewegte sich kurz, ein Augenblick schien es, als würde sie die Augen öffnen, doch dann fiel der Gesichtsausdruck in jene Züge zurück, die Tochter und Enkelin seit Tagen vertraut waren. „Wann musst Du zur Arbeit?“, fragte Ela ihre Mutter mit leiser Stimme. Sie fand nicht, dass es unbedingt angebracht war, zu schweigen oder nur zu flüstern. Schließlich sollte die Großmutter ruhig mitbekommen, dass sie nun beide da waren. Das war in den letzten Jahren eigentlich nie mehr so gewesen. Nach Großvaters Tod, die drei Frauen unter einem Dach, das war nicht mehr lange gut gegangen. In der Erziehung von Michaela waren Mutter und Großmutter immer wieder aneinandergeraten. Renate warf ihrer Mutter vor, das Kind zu verwöhnen, wusste aber, dass sie auf ihre Mutter angewiesen war und sah sich daher nicht in der Lage, den Streit wirklich auszutragen. Renate hatte mit ihrer Tochter kurze Zeit später eine eigene Wohnung gesucht. Ihre Arbeit hatte sie so eingeteilt, dass sie Michaela morgens zur Schule bringen konnte, mittags von dort abholen und in den Hort begleiten konnte. Michaela hatte die Zeit in der kleinen Wohnung in keiner guten Erinnerung. Zunächst sehnte sie sich an das Küchensofa der Großmutter zurück. Eine Zeitlang durfte sie wenigstens am Wochenende zur Oma und die Nacht von Samstag auf Sonntag im nun extra für sie eingerichteten Besucherzimmer verbringen. Oben in die Wohnung war nach dem Auszug ein älteres Ehepaar eingezogen. Michaela hatte große Mühe in der Schule. Die Lehrer taten alles dafür, ihr in der Vorschulzeit sichtbar gewordenes lebendiges Interesse an den Dingen, ihre überdurchschnittlich große Neugier an dem, was die Welt ausmacht und zusammenhält, zu nehmen. Als kleines Kind hatte sie im Garten der Großeltern Blumen gepflückt, die Blüten abgetrennt und nach und nach auseinander genommen und sich die einzelnen Bestandteile angeschaut und versucht, sie auf einem Block nachzumalen. Im Biologieunterricht einige Jahre später erhielt sie für ihre Leistungen eine vier. Ihr Biologielehrer bescheinigte ihr vollkommenes Versagen und prophezeite ihr, dass sie früher oder später in der Schule scheitern werde.

Michaela wechselte nach der Grundschule in die Realschule, schaffte da mit Mühe den Realschulabschluss und begann eine Lehre in einer Fleischerei. Nach einem halben Jahr brach sie die Lehre aufgrund der fortgesetzten Nachstellungen des Metzgermeisters ab. Sie blieb noch einige Monate bei ihrer Mutter wohnen, bis sie drei Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag auszog und in eine Wohngemeinschaft, in der einige ihrer damaligen Bekannte wohnten,  zog. Dort waren die Jahre zwischen Abhängen und Jobs vergangen. Die Mitbewohner und Mitbewohnerinnen wechselten, nur sie blieb für Jahre der Wohnung treu. Die meisten gingen, weil sie mit Freund oder Freundin zusammenziehen wollten, weil ein Kind unterwegs waren, weil ein Job sie in eine andere Stadt zog oder weil sie einfach auf das WG-Leben keinen Bock mehr hatten. Irgendwann, aber spät im Vergleich zu den anderen, ging auch sie diesen Schritt. Mit dreißig, nach zwölf Jahren Wohngemeinschaft, suchte sie sich eine eigene kleine Wohnung.    

„Wann musst Du zur Arbeit“ wandte sich Ela noch einmal an ihre Mutter, nachdem sie auf die erste Nachfrage keine Antwort erhalten hatte. Sie saß, ähnlich wie Ela, meist in Gedanken versunken am Bett und blickte in das Gesicht der Sterbenden. Beide erinnerten sich jede für sich an Stationen des Lebens, schöne und schmerzhafte Augenblicke und beide machten sich so ihre Gedanken über ihr eigenes Leben. Insgeheim rechneten sie, wie viele Jahre ihnen noch bleiben würde, bis sie sich verabschieden müssten. Gut vierzig Jahre würden ihr, vielleicht, wenn nicht Unfall oder Krankheit dazwischen kommen würden, bleiben, die Hälfte des Lebens war somit bald verstrichen. „Ich muss jetzt gleich los, bleibst du noch ein bisschen hier?“. Ela nickte kurz, ohne ihre Mutter anzusehen. Die beiden hatten sich in den letzten Tagen darauf verständigt, möglichst oft hier zu sein. Der Doktor hatte über das Pflegepersonal ausrichten lassen, dass in den nächsten Tage mit einem langsamen Dahingleiten vom Leben in den Tod zu rechnen sei und dass es unwahrscheinlich sei, dass die Großmutter noch einmal zu sich kommen würde. Elas Mutter stand nun auf, beugte sich über das Bett, glitt mit ihrer Hand kurz über die Wange, wandte sich dann um, nahm ihren Korb auf, den sie fast immer bei sich trug, vom Boden auf und verließ mit einem „Ich ruf dich an“ den Raum.      

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Projekt Gegensätze - April 2022