
7. Kapitel
Ela schob ihren Einkaufswagen vor sich her. Sie war auf der Suche nach Curry. In diesem Laden hatte sie bisher noch nie Gewürze eingekauft und versuchte nun, das in der Regel unscheinbare Gewürzregal zu finden. Der Laden war nicht sehr voll. Mit Neugierde beobachtete Ela, was andere Kunden in ihren Einkaufswagen packten und befand, ob äußeres Erscheinungsbild und Artikel im Einklang stünden. Gelegentlich versuchte sie sich anhand der Waren auszumalen, was mit der Person los war oder wie der Rest des Tages für sie verlaufen würde. Manche kauften für ambitionierte Mahlzeiten ein: Ausgesuchtes frisches Gemüse, Bio-Kartoffeln, frisches Obst, edler Käse, Creme fraiche, edle Süßwaren, eine gute Flasche Wein. Manchmal galt aber auch: „Zeige mir Deinen Einkaufswagen, und ich sage dir, wie weit unten du bist“. Einseitige Ernährung war dabei der noch harmlose Befund, häufig zeigten sich Spuren eines desolaten Alltags: Mengen von Alkohol - Six – Packs Bier, Literflaschen Billig – Wein, oder Schnaps, dann noch Dosenfood, ob Pichelsberger Eintopf oder Ravioli, Berge von Süßigkeiten oder Knabbergebäck, Zigaretten kamen an der Kassen hinzu. Ela war erschrocken darüber, wie häufig sich solche Indizien zeigten und wie häufig sich gepflegtes Äußeres und fragwürdige Konsumgewohnheiten kombinierten. Ela hatte endlich das Curry – Pulver gefunden.
Vor den Kühlregalen am Kopfende des Lebensmitteldiscounters war in der Regel der meiste Betrieb. Selbst wenn der Laden nicht so voll war, drängten die Kunden nach Butter, Sahne, Joghurts, aber auch Käse und Wurst. Sie war dabei, neben dem Curry ihren Standardeinkauf zu tätigen. Tomaten, eine Gurke, ausnahmsweise auch einmal Rucola-Salat, der diese Woche im Angebot war und die 500 gr. Plastikschale für neunundneunzig Cent zu haben war, Bauernschnitten Graubrot, Margarine, ein Sechser-Pack Eier, Nudeln und nun, am Kühlregal, war sie auf der Suche nach einem Becher Schmand. Neben ihr ließ ein Mann seinen Blick durch das Joghurt-Sortiment kreisen, bis er endlich nach einem Becher griff und die Aufschrift studierte. Unvermittelt drehte er sich zu Ela um und mit einem „Sagen Sie mal, haben Sie schon einmal den probiert: Bauer-Joghurt, Apfelstrudel“ wandte er sich unmittelbar an sie. Ela war erstaunt. Der Mann war in ihrem Alter, vielleicht einwenig jünger, hoch gewachsen, um einiges größer als sie, dünn, aber nicht schmächtig und war mit Jeans, T-Shirt und Jeansjacke gekleidet. Sein Gesicht sah erholt aus und zeigte eine Bräune, die auf viel Bewegung unter freiem Himmel hindeutete. Er schaute ihr mit verschmitztem Blick fragend in die Augen. „Na, ja, wenn Sie mich fragen, lassen Sie lieber die Finger davon, mir jedenfalls schmeckt er nicht“, antwortete Ela. „Ach, Sie haben ihn also tatsächlich schon einmal getestet?" entgegnete der Unbekannte mit gespielter Überraschung. „Ich stehe nicht auf Rosinen“, erläuterte Ela und verzog zur Untermalung ihr Gesicht. „Rosinen? Da sind Rosinen drin? Zimt, das wäre ja noch akzeptabel, aber Rosinen, das geht tatsächlich zu weit!“, und mit diesen Worten stellte der Mann den Joghurt in das Kühlregal zurück. „Was würden Sie mir denn empfehlen?“ hob er anschließend wieder an und blickte Ela fragend an. „Mir schmeckt am liebsten Zitronen-Joghurt, aber die Geschmäcker sind ja verschieden, oder?“. „Zitronenjoghurt, das war auch die Lieblingssorte von meinem Kumpel. Der ist jetzt nach Berlin gegangen. Hat gesagt, da wäre mehr los als hier in der Provinz, am Puls der Zeit, an den Zentralen der Macht, Drehscheibe von Ost und West, Kulturhauptstadt Europas und so was, na ja, das können sie sich ja vorstellen.“ Ela war amüsiert übe die Redseligkeit ihres Gegenübers. Er schien in Plauderlaune zu sein und hatte sich offenbar aus Zufall sie als Zuhörerin ausgesucht. „Das scheint ihnen aber schwer zu fallen, ich meine das mit ihrem Kumpel, dass er weggegangen ist?“ fragte Ela weiter. Der Mann hatte unterdessen zwei Zitronen-Joghurts in seinen Wagen, in dem bisher nur ein Bund Möhren lag, gepackt. „Wir haben schließlich viele Jahre zusammen gewohnt. Da ist das schon ein großer Verlust“. „Sie können ihn doch sicher ab und an besuchen!“, gab Ela lächelnd zurück. „Ja, das werde ich wohl machen, aber jetzt muss ich ja erst einmal sehen, dass ich das mit dem Einkaufen hinkriege. Wissen sie, er hat eigentlich immer eingekauft, wir hatten da so unsere besondere Arbeitsteilung, und jetzt stehe ich hier, inmitten dieser unübersichtlichen Flut von Angeboten und weiß gar nicht weiter.“ „Na, da tun sie mir aber leid. Vielleicht sollten sie sich zur Vorbereitung einen Einkaufszettel machen, das wäre sicher hilfreich“. Ela lächelte wieder und schickte sich an, nun endlich den Schmand aus dem Kühlregal zu angeln. „Darf ich Ihnen behilflich sein, die Sahne?“ bot sich der Mann an, der Elas Blick gefolgt war und sich für den Griff in das Regal in aussichtsreicherer Position wähnte. „Nein, den Schmand bitte, den billigen für neununddreißig, zweimal“, antwortete Ela und nahm dann die beiden Becher entgegen, die ihr umgehend gereicht worden waren. „So, jetzt ist aber gut, oder?“, fragte Ela, bei der die Befürchtung wuchs, dass die nette Begegnung in ihrem Befinden den Charakter von Aufdringlichkeit annehmen könnte. „Vielen Dank für den Hinweis auf den Zitronenjoghurt und war schön, sie getroffen zu haben“, entgegnete der Mann locker und Ela gab mit einem Lächeln ein „Na, ja, vielleicht schon...“ zurück und setzte ihren Gang durch die Regale fort. Eigentlich hatte sie nun alles, was sie benötigte, beisammen, doch konnte sie sich nicht entschließen, auf geradem Wege zur Kasse zu steuern. Der Fremde hatte ihre Neugier geweckt und so ließ sie sich Zeit, schob ihren Wagen in einen Seitengang, begutachtete das beachtliche Sortiment von Teigwaren, das eine gesamte Seite des Ganges in Anspruch nahm und nahm genaueren Überprüfung eine 500 gr. Packung Tagliatella und anschließend eine Packung Platten in die Hand. Die Produktinformationen auf den Packungen waren mit Inhaltsstoffen und Rezeptempfehlungen so umfangreich und detailliert, dass sich damit schon einige Zeit schinden ließ. „Können Sie mir sagen, wo ich Linsen gekomme?“, fragte eine ältere Dame mit streng wirkendem braunen Mantel und einem altmodisch wirkenden Hut über violettgrau gefärbtem Haar, die mit ihrem Einkaufskorb neben Ela angehalten hatte und nun fragend in ihr Gesicht schaute. „Linsen, Sie meinen, trockene Linsen, oder in der Dose als Linseneintopf?“, frage Ela zurück, die zwar beides noch nie selber gekauft hatte, aber doch eine Idee hatte, wo beides zu finden sein würde. „Getrocknete Linsen meine ich“, gab die ältere Dame zurück und ließ sich dann von Ela zu jene Stelle führen, wo neben Reis, getrockneten Bohnen, Graupen auch die Linsen zu finden waren. “Herzlichen Dank, sehr freundlich“ bedankte sich die Alte, die gleich drei Pakete Linsen fein säuberlich ein eine Ecke ihres Einkaufswagens stapelte. Außerdem hatte sie bereits zwei Bünde Suppengrün sowie ein kleines Säckchen Kartoffeln in ihrem Wagen. Ela kehrte nun zu ihrem Wagen zurück, sah dabei den Hauptgang entlang und stellte fest, dass der große Unbekannte sich unterdessen zum Bereich der Kassen hindurchgearbeitet hatte. Ela nahm ihren Wagen und steuerte nun ebenfalls in diese Richtung. „Hallo, sie schon wieder“, wurde sie auch gleich begrüßt, als sich ihre Blicke trafen. Sie standen nun hintereinander an einer der beiden mittellangen Schlangen und würden nun noch einmal Gelegenheit haben, sich für eine Weile auszutauschen. Ela streckte ihren Kopf etwas seitlich nach oben und versuchte so einen Blick in den Wagen des Mannes zu erhaschen. „Oh, aus ihrem Einkauf ist aber nicht viel geworden“ kommentierte sie, dass der Bund Möhren und der Zitronenjoghurt nur noch durch eine kleine Dose Mais ergänzt worden war. „Ich bin heute nicht in Einkaufslaune, wissen Sie, ich bin ja eben erst aufgestanden, vielleicht hätte ich auch erst einmal für ein Frühstücksbrötchen zum Bäcker gehen sollen“ entgegnete der Mann, der nun, um ihr näher zu sein, sich seitlich an ihren Wagen herangestellt hatte. „Wie kann es sein, dass Sie jetzt erst aufgestanden sind, schließlich ist ja gleich Mittag und die meisten Menschen haben schon einiges hinter sich, genug jedenfalls, um bereits alle ihre Gedanken beisammen zu sein?“ kleidete Ela ihre Neugier in eine wortreiche Frage. „Ich gehe zwar einer Reihe von Tätigkeiten nach, aber in erster Linie studiere ich und habe daher das Privileg, zumindest gelegentlich auch in der Woche ausschlafen zu können“, gab er zur Antwort und legte wieder ein vergnügtes Lächeln auf. „Was studieren Sie denn?“, „Biologie“ gab er forsch an, „im vierundzwanzigsten Semester“ setzte er mit übertrieben zerknirschter und sicher nicht ernst gemeinter Miene hinzu. „Na, ja, wenn sie so studieren, wie sie einkaufen, wundert mich das nicht“, gab Ela, die sonst nicht besonders schlagfertig war und sich nun umso mehr über diese gelungene Bemerkung freute, zurück. „Und womit haben sie den bisherigen Vormittag bestritten, wenn ich fragen darf?“, versuchte er nun, dem Gespräch eine Wende zu geben. Ela schluckte kurz, und gab dann an, beim Arzt gewesen zu sein?“ „Oh, Sie sind krank, Sie sehen gar nicht krank aus?“, fragte der Mann mit einem nicht wirklich ernst gemeinten besorgtem Blick weiter. „Nicht wegen mir, wegen meiner Großmutter“, gab nun Ela ernst zurück. „Sie ist schwer krank und ist bei diesem Arzt in Behandlung.“ Das Gespräch wurde unterbrochen. Sie hatten sich nach und nach der Kasse genähert und nun war der Mann an der Reihe, seinen Einkauf auf das Band zu legen. Da seine Vorderleute mit ebenfalls überschaubaren Einkäufen von der Kassiererin schnell abgefertigt worden waren, und es blitzschnell ging, seine vier Waren über den Scanner zu ziehen, ging es für ihn auch gleich ans Bezahlen. Er schaute noch einmal zurück und blickte zu Ela, die dabei war, nun ihren doch etwas üppigeren Einkauf auf das Band zu platzieren. Ela war nun etwas angestrengt, die plötzliche Hektik an der Kasse und das Thema, was sich nun im Gespräch, vor allem aber in ihren Gedanken aufgetan hatte, ließ die empfundene Leichtigkeit der vergangenen Augenblicke verschwinden. Der junge Mann, der, wie Ela fand, auch aus der Entfernung eine gute Figur machte, stand nun am Packtisch hinter der Kasse und verstaute seinen Einkauf in seinen Rucksack und entnahm dem anschließend einen kleinen Block und einen Kuli. Er beugte sich vor , schrieb kurz etwas auf die oberste Seite des Blocks und riss das beschriebene Areal aus. Ela hatte nun begonnen, ihren Einkauf in zwei Stofftaschen zu verstauen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Der Mann, nun mit dem Rucksack auf dem Rücken, kam auf sie zu und sagte: „Ich bin Kai, war nett, dich getroffen zu haben, vielleicht hast Du ja Lust, mich mal anzurufen, wie heisst du denn?“. „Ela, ja, danke, vielleicht...“, erwiderte Ela, nahm den Zettel, den ihr Kai reichte, an und lächelte etwas bemüht. „Ja, vielleicht, tschüss, einen schönen Tag...“ „Dir auch“, sagte Kai und verschwand.