
6. Kapitel
Der Montagmorgen hatte trübe begonnen. Das gute Wetter hatte am Sonntagnachmittag ein jähes Ende gehabt. Es waren dicke Wolken aufgezogen und bald hatte es an zu regnen begonnen. Ela war sogar etwas froh gewesen, denn das schlechte Wetter bedeutete, dass es in dem Cafe, in dem sie vierzehntägig sonntags arbeitete, ruhiger wurde. In den letzten Wochen, während des Sommers war es häufig voll gewesen, Spaziergänger, die ihren Sonntagnachmittags – Kaffee hier einnahmen und die vier, fünf Stunden im Service waren voll der Stress gewesen. Und so tat es gut, wenn das Geschäft etwas moderater verlief. Nun stand Ela am Eingang eines der großen neuen Bürogebäude der Innenstadt. Ihr Fahrrad hatte sie an einem nahe gelegenen Verkehrsschild angeschlossen. Ihr Blick glitt über die Namensschilder, hier: Dr. Heinen, Facharzt für Allgemeinmedizin. Sie drückte den Klingelknopf und nach Sekunden erfolgte das Brummen des Türöffners. Ela nutzte die großzügige Marmortreppe, um in die zweite Etage zu kommen. Hier war eine Glastüre, die sich aber ohne nochmaliges Klingeln öffnen ließ. „Sie sind zum ersten Mal bei uns“, fragte die nicht im klassischen Weiss sondern mit einer dunkel-blauen hoch geschlossenen Bluse gekleideten Arzthelferin am etwas pompös wirkenden Empfang. „Ja, ich war noch nie hier“, erwiderte Ela und schob ihre Krankenkassen – Chipkarten über die weiße Oberfläche des Empfangtresens. Die Arzthelferin zog sie routiniert durch das Lesegerät und fragte kurz: „Rosenstraße, das ist richtig?“. Ela nickte und wandte sich nach der ihr von anderen Arztbesuchen vertrauten Aufforderung „Nehmen sie noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz“ um, schritt ins Wartezimmer, hängte ihre dünne Regenjacke an die Garderobe und setzte sich auf den einzigen Sitz, bei dem es nur einen direkten Nachbarn gab und Ela nicht von beiden Seiten von anderen beengt sitzen würde. Ela schaute sich um: Patienten jeden Alters hatten hier im Wartezimmer Platz genommen. Eine junge Mutter mit ihrem vielleicht drei, vier Jahre altem Kind auf dem Schoss, sie las ihm aus einem Kinderbuch vor, das sie offensichtlich von einem Tisch in der Ecke des Wartezimmers. Neben den beiden ein Mann, so Mitte Dreißig und damit im Alter von Ela, der seinen linken Arm in einer Manschette trug und bei dem Ela mit ihren Laienkenntnissen eine Schlüsselbein- oder Schulter-Verletzung vermutete. In einem älteren Herr, der seinen Hut noch auf seinem Kopf trug und einen Gehstock zwischen seinen Beinen hielt, meinte Ela den Fahrgast im Bus vor ein paar Tagen zu erkennen, da, als sie ins Altenheim gefahren war. Außerdem waren da noch zwei ältere Damen, zueinander gewandt ihre Köpfe zusammensteckten und die sich zwar leise, aber doch angeregt unterhielten. Einige andere waren in Zeitschriften vertieft. Da es sich um Ausgaben eines Lesezirkels handelten, verrieten die braunen Umschläge, was nun die Einzelnen in Händen hielten. Ela stand kurz auf, beugte sich über den niedrigen Glastisch, der in der Mitte des Raumes stand und inspizierte, welche Zeitschriften noch für übrig geblieben waren: Focus, Frau im Spiegel und Auto, Motor, Sport waren die Titel, die noch frei waren.
Über einen Lautsprecher wurden die Patienten aufgerufen und es ging erstaunlich schnell. Das Wartezimmer wurde zwar nicht leerer, weil in ähnlicher Intensität Neuankömmlinge das Wartezimmer betraten, doch Ela fand es beruhigend, hier offenbar jetzt nicht Stunden warten zu müssen. Es handelte sich nicht um eine Gemeinschaftspraxis, da war sich Ela sicher, aber manche Patienten waren vielleicht nur zur Blutentnahme da oder anderen ärztlichen Verordnungen.
„Frau Rasche bitte“, ertönte es nun im Lautsprecher. Ela erhob sich und schritt in Richtung Empfang. In dem nach hinten gehenden Flur wurde sie von einer anderen, im Klassischen Praxis-Weiß gekleideten Arzthelferin empfangen und mit einem routinierten „Frau Rasche, bitte hier in Raum fünf“ in den für sie vorbestimmten Raum dirigiert. „Nehmen sie Platz“ forderte die Arzthelferin auf, bevor sie die Tür hinter sich bis auf einen Spalt zuzog. Ela schaute sich um. Ein Sprechstundenzimmer ohne große Überraschungen, ein etwas überdimensionierter Schreibtisch, mit Flachbildschirm und Tastatur, dahinter ein lederner Bürosessel, an der Wand Regale vorwiegend mit medizinischen Standardwerken. In einer anderen Ecke ein weißer Schrank mit Milchglastüren, hinter denen Ela Verbandsmaterial und Medikamente, die in den letzten Jahren nach der Gesundheitsreform und der damit verbundenen Zuzahlung zu Medikamenten noch begehrter gewordenen Musterpackungen vermutete. An der Wand ein mannshohes Schaubild mit den Muskelgruppen des Menschen. Ela dachte an die umstrittene Ausstellung vor ein paar Jahren, als den Besuchern Leichname vorgeführt wurden, bei denen die Organe, Muskeln, das gesamte Gewebe durch Plastination haltbar gemacht worden war und es möglich war, in die Körper hineinzusehen. In diesem Moment betrat Dr. Heinen das Sprechzimmer. Er war groß, bestimmt über ein Meter neunzig mit kräftiger Statur und wirkte fast wie ein Athlet in vorgerücktem Alter, er mochte wohl so um die fünfzig sein. Sein Gesicht hatte markante Züge und die randlose, eher zierliche Brille, die er trug, wirkte etwas fehl am Platze. „Guten Tag, was kann ich für sie tun“, fragte er in einem schnoddrigem Ton, ohne Ela überhaupt großartig anzusehen, während er von der Tür unmittelbar hinter seinen Schreibtisch steuerte, sich in seinem Sessel niederließ und nach ein paar schnellen Eingaben auf der Tastatur seinen Blick in den Monitor richtete. „Sie sind zum ersten Mal hier, nicht?“, nun sah er endlich auf und mit einiger Aufmerksamkeit in Elas Gesicht. „Ich heiße Michaela Rasche, bin die Enkelin von Frau Rasche im Marienstift und deshalb bin ich hier“, erwiderte Ela in ruhigem, aber entschlossenem Ton. „Ich halte die Gabe von Morphium in dieser Situation für unangemessen und möchte wissen, wie sie darüber denken“. Ela war noch nie jemand gewesen, die großartig drum herum redete, sondern sie versuchte sofort auf den Punkt zu kommen. Ein netter Small-Talk, das war ihre Sache nicht. Der Arzt ließ sich nach hinten in den Sessel sinken und nahm seine Brille ab. „Frau Rasche, ich kann mir vorstellen, wie ihnen zumute ist. Ich weiss nicht, ob sie sehr an ihrer Großmutter hängen, aber in jedem Fall ist es schwer zu akzeptieren, wenn ein Mensch, zumal eine nahe Verwandte stirbt. Eine der gängigsten Reaktionen ist, das Sterben nicht wahrhaben zu wollen und Schuldige zu suchen und sehr oft sind dies, das können sie mir glauben ist, die Ärzte, die Schuld haben sollen. Ich kann Ihnen nur eins ganz deutlich sagen: Ihre Großmutter hatte in den letzten Wochen Schübe schwerster Schmerzen, deren Ursachen verschiedene waren und sind, multikausal Schmerzen eines vor dem Todes stehenden Menschen. Hier ist somit eine klare Indikation für die Gabe von Morphin in der in diesen Fällen empfohlenen Dosierung gegeben. Und in diesem Sinne verläuft nun die Therapie. Tatsache ist, dass als Nebenwirkung eine starke Belastung des Gesamtorganismus, insbesondere des Herz-, Kreislaufsystems verbunden ist, die in manchen Fällen dann zum Tode führen kann. Frau Rasche, ich kann ihren Schmerz verstehen, auch eine kritische Haltung gegen einen solchen Therapieansatzaber glauben sie mir, ich bin mir sicher, damit auf der richtigen Seite zu stehen“. Der Arzt schien das Gespräch damit als beendet anzusehen und sich bereits wieder erheben zu wollen. „Wie oft wird eine solche Therapie von Ihnen durchgeführt?“, fragte Ela, die aufmerksam den Ausführungen ihres Gegenübers gefolgt war. „Wissen, Frau Rasche, darüber darf, kann und vor allen Dingen will ich Ihnen keine Auskunft geben und damit halte ich das Gespräch für beendet, sie haben gesehen, wie viele Patienten im Wartezimmer sind, ich wünsche Ihnen alles Gute“. Während der letzten Worte war er tatsächliche aufgestanden, und war in Richtung Tür geschritten. Er drehte sich noch einmal kurz vor der Tür um, sagte „Guten Tag“ und verschwand. Ela blieb zunächst etwas verstört auf dem Stuhl sitzen, raffte sich dann aber auf und verließ ihrerseits das Sprechzimmer. Sie holte im Wartezimmer ihre Jacke, nickte der Frau am Empfang, die anhob um nach einem neuen Termin zu fragen, kurz zu und verließ die Praxis.