
5. Kapitel
„Ihr Zustand ist unverändert, Mama war gestern wohl einige Stunden bei ihr und hat auch mit Dr. Heinen gesprochen. Tatsache ist, dass bald Schluss sein wird. Die Morphium-Gaben werden fortgesetzt und der Arzt meint, dass der Körper, der Kreislauf, erstaunlich robust ist, aber irgendwann...“. Es war Samstagmorgen und wie an fast jedem Wochenende begleitete Ela ihre Freundin Doro bei dem morgendlichen Gang mit Doros Hund. Die aufgehende Sonne stand knapp über den Dächern der Einfamilienhäuser, die hier an die großen Felder am Rande der Stadt angrenzten. Die Äcker waren zum großen Teil abgeerntet, grobe Schollen braun-lehmiger Erde hatte der Pflug hinterlassen. Grün nur noch die Zuckerrüben mit ihren groben Blättern, doch bald würden auch sie geerntet werden. Von hier ließ sich weit über die leicht gewellte Landschaft blicken bis zu dem Höhenzug im Nordwesten, dem Mittelgebirge, das hier dicht bewaldet an die landwirtschaftlich genutzte Hügellandschaft angrenzte. Die beieinander stehenden Gebäude einiger Bauernhöfe waren da und dort in der Landschaft zu erkennen. Jetzt am frühen Morgen hielten sich über Bachläufen und einigen Senken noch bizarr und geheimnisvoll wirkende Nebelfelder. Der Hund, ein junger Labrador-Mischling schnupperte im Gras des Grünstreifens, der den asphaltierten Weg von den Feldern trennte. Immer wieder verschwand seine Nase in Mauselöchern. Doro, eigentlich natürlich Dorothea, war eine gute Freundin, seit langer, langer Zeit. Irgendwann waren Ela und sie sich bei einer gemeinsamen Bekannten begegnet. So ein echter Glücksfall von Freundschaft, wo sich schon nach einigen wenigen miteinander gewechselten Sätzen gezeigt hatte, dass sie zueinander passen würden. Doro hatte damals irgendetwas gesagt, Ela konnte sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war, aber es war so präzise auf den Punkt gebracht und so im Einklang mit Elas Empfinden gewesen, dass sie direkt Freundschaft geschlossen hatten. Doro war um einiges älter, fast zehn Jahre älter als Ela, was aber beide gut fanden, weil selbst bei einem großen Einverständnis in vielen Dingen so ein gewisse Nuance da war, ein einwenig anderer Blickwinkel, verursacht durch die zehn Jahre, die zwischen ihnen lagen. Vielleicht auch verursacht durch die unterschiedlichen: Doro, die Akademikerin, die nach ihrem Studium an der Uni geblieben war und seither als Dozentin an der Fakultät für Soziologie beschäftigt war und Ela, na, ja, da war eine Berufsbezeichnung nur mit Mühe zu finden: Sie war die ewige Jobberin, mal hier, mal da, zwischen Wochenmarkt, Kneipen-Küchen und auch mal Putzjobs hin und hertingelte. Sie hatten nie so sehr viel Zeit miteinander verbracht, sie hatten sich früher alle drei bis vier Wochen getroffen, nun, seit gut anderthalb Jahren und Doro ihren Hund hatte, war es ihnen zur Gewohnheit geworden, sich jeweils zum Samstag-Spaziergang zu treffen. Während viele ihrer Bekannten, Arbeitskollegen nach einer anstrengenden Woche oder einem strapaziösem Freitagabend den Samstagmorgen nutzten, um auszuschlafen, waren sie immer so um acht Uhr, in den Herbst- und Wintermonaten rund eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang miteinander verabredet. „Morphium, damit bringen sie die Alten heute um, das ist nichts anderes als aktive Sterbehilfe, was da betrieben wird, da wird genau das gemacht, was nach dem Gesetz verboten wird. Für die Gabe von Morphium gibt es eine ganz klar umrissene Indikation und nach all dem, was Du erzählst, liegt die bei deiner Oma nicht vor“, sagte Doro, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren. „Ich weiß“, entgegnete Ela knapp. Sie ging nicht wie sonst meistens erhoben, gerade, sondern schlich einwenig in sich zusammen gefallen neben ihrer Freundin her und so war der Größenunterschied zwischen ihnen beiden, die eher etwas kleine Ela und die dünne, große Doro noch ausgeprägter als sonst. „Was willst Du jetzt tun“, fragte Doro weiter, während sie einwenig dichter an Ela heranrückte und ihre Arme sich kurz berührten. In der Ferne sahen sie eine kleine Gruppe Nordic Walker mit ihren Stöcken durch die Felder ziehen. „Es ist jetzt zu spät für alles. Meine Mutter, meine Tante, alle sagen, dass es gut ist, wenn jetzt die Qualen bald vorbei sind. Ich weiss nicht, ich habe sie nie in einem solchen Zustand erlebt, wo sie gestöhnt und geächzt hat und gefleht, dass es doch endlich ein Ende haben möge. Aber ich glaube Ihnen, ich glaube schon, dass das so war und vielleicht jetzt auch so wäre, wenn da nicht das Morphium wäre. Ich habe mich einfach all die Zeit nicht gekümmert, früher nicht, wo sie allein in ihrer Wohnung war und auch jetzt nicht, seitdem sie ins Heim gekommen war. Na, ja, und jetzt daher zu kommen und zu sagen, hey, das könnt ihr nicht tun, das ist Mord, wie soll das denn gehen?“. Sie hielt kurz inne, ging von sich aus noch ein Stück näher an Doro heran, sodass die Elas Arm in den ihren nahm und sie nun untergehakt den Weg fortsetzten. „Sie werden es jetzt nicht mehr absetzen, es ist einfach jetzt so, sie hat es jetzt bald hinter sich und das ist auch ihr Wunsch, das glaube ich schon, dass es ihr Wunsch ist. Sie hat ja auch gar nichts mehr zu sich nehmen wollen, das hat Lukas mir noch gesagt, der Pfleger, einer, der schon die ganze Zeit für sie zuständig ist.“ „Trotzdem“, Doro schüttelte den Kopf, „trotzdem ist es nicht in Ordnung, vor allem nicht von dem Arzt. Der wird das zwar anders sehen und denkt sich, dass er deiner Oma und sämtlichen Angehörigen einen Gefallen tut. Vielleicht hat er schon viele auf diesem Wege von ihrem Leiden befreit, um die Ecke gebracht. Komm, bei Euch ist es ja noch so, dass keine sonderlichen finanziellen Dinge eine Rolle spielen, aber denk nur an die vielen Fällen, wo jeder Tag, den die Mutter oder der Vater, die Oma oder der Opa noch leben, den Kindern bares Geld kostet.“ Ela blieb abrupt stehen und befreite ihren Arm. „Das ist doch alles Scheiße, was Du quatschst, da hat jetzt keiner was von, ich weiß nicht, was ich machen soll, ich lass jetzt alles so laufen: Es ist zu spät!“ Von Ferne näherte sich auf dem Feldweg ein Fahrradfahrer, der ebenfalls einen Hund bei sich führte, der an lockerer Leine neben dem Fahrrad hertrabte. „Und was ist jetzt mit Ralle?“ fragte Doro. „Ist es aus mit ihm, oder was?“. „Quatsch, da geht’s nicht drum, ich liebe ihn noch immer, und ich will mit ihm zusammenbleiben, aber das wird mit einfach zuviel, das mit der Sauferei, und immer, wenn ich ihn brauche, ist er nicht da, liegt im Bett, schläft seinen Rausch aus, ist nicht ansprechbar und wenn er nüchtern ist, da ist er einfach auch nicht zu gebrauchen.“. Sie standen sich nun für eine kurze Zeit gegenüber, Doros Hund, Boje, hielt beim Schnüffeln inne und erwartete aufmerksam und mit gespannter Körperhaltung das herannahende Fahrrad-Hund-Gespann. Der Fahrradfahrer grüßte kurz beim Vorbeifahren und Boje rannte kurz dem fremden Hund nach, drehte aber dann schnell ein, als sie merkte, dass der andere Hund auf ihr Spielangebot nicht einging. Sie hatten nun fast die Runde hinter sich. Die Sonne war ein ganzes Stück weiter nach oben gewandelt. Sie hatte für diese Jahreszeit noch erstaunlich viel Kraft und sorgte an diesem fast wolkenlosen Morgen für eine große Helligkeit. Die Weite und die Helligkeit waren das, was diese Spaziergänge so wichtig machten, einmal in der Woche. Einmal in der Woche raus aus den engen Straßen der Stadt, mit diesen begrenzten Perspektiven, den engen Horizonten, ohne Durchblick, ohne Weitblick. Doro und Ela verabschiedeten sich, nahmen sich in die Arme, drückten sich. Ela wandte sich ihrem Fahrrad zu, das sie an einem Laternenpfahl angschlossen hatte, Doro und Boje steuerten dem Kleinwagen entgegen, der am Beginn des Feldweges am Rand abgestellt war.