Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

3. Kapitel

Sie hatte weder Schritte gehört noch hatte sie die Türe sich öffnen gehört. „Hallo, Frau Rasche, schön, dass Sie da sind“ vernahm sie von einer ihr bekannten Stimme. Lukas, sie hatte sich immer nur seinen Vornamen merken können, war in das Zimmer getreten und stand ihr nun mit Sportschuhen, Jeans und einer weißen Pflegejacke gegenüber. Seine kurzen schwarzen Haare waren oben mit Haargel in künstliche Unordnung versetzt. Ela glaubte, dass er um einiges jünger, vielleicht so Ende zwanzig war. Er reichte ihr seine Hand und kurz glitt ein Lächeln über sein Gesicht, bevor seine Miene nachdenklich-besorgt wurde. „Gehen wir kurz nach draußen?“ lud er Ela ein und wandte sich Richtung Tür. Ela folgte ihm in das kleine Wohnzimmer,  das wie fast immer von niemanden genutzt wurde. „Ihre Großmutter wird nicht mehr lange leben“ sagte Lukas mit ruhiger und klarer Stimme und sah Ela dabei fest in die Augen. „Wieso, wieso können Sie das mit so großer Bestimmtheit sagen?“, gab Ela irritiert zurück. „Dr. Heinen hat eine Morphium-Therapie begonnen, die ihrer Großmutter die Schmerzen nehmen wird, sie ruhig stellen wird, aber auch ihren Körper so belasten wird, dass sie in einigen Tage, vielleicht aber schon in einigen Stunden ...“, Lukas schien nach dem geeigneten Wort zu suchen, „...sterben wird. Wir möchten, dass sie und ihre Familie noch Zeit haben, Abschied zu nehmen. Es war so abgesprochen, dass wir Ihnen Bescheid geben würden, wenn es soweit ist. Ihre Mutter und ihre Tante haben wir heute morgen nicht erreichen können. Schön, dass Sie jetzt da sind“. Ela war eigentlich selten um Worte verlegen, nun stand sie da, vor dem Pfleger Lukas, im Wohnzimmer der Station 2 rot und wusste nicht, was sie sagen sollte. Von einer solchen Absprache hatte sie nichts gewusst, auch dass es so schlimm um ihre Großmutter steht, war ihr nicht klar gewesen. Ja, die Monate hier im Heim, das war ein zum Teil rasches Abnehmen von Kraft und Lebensenergie. Aber jetzt, dass es plötzlich soweit sein sollte, das war ihr vollkommen abwegig. Lukas spürte die Ratlosigkeit, holte tief Luft und führte mit leiser, aber fester Stimme weiter aus: „Ihre Großmutter hat vier schlimme Wochen hinter sich. Sie stöhnt ständig vor Schmerzen. Wir wissen nicht einmal, wo die Schmerzen herkommen. Sie will nichts mehr zu sich nehmen. Dr. Heinen war in den letzten Tagen immer wieder hier, aber er sagt, er könne nun nichts mehr machen“. Ela blieb stumm, blickte asu dem Fenster, ging ein paar Schritte zu einem der Stühle, die um die beiden kleinen Tische gruppiert waren, und setzte sich hin. „Soll ich Ihnen was zu trinken bringen?“, fragte Lukas. Ela  nickte kurz, während sie mit starrem Blick aus dem Fenster auf eine der Buchen blickte, die zwischen dem Gebäude und der entlangführenden Straße standen.

Nachdem Lukas gegangen war, erhob sie sich schnell, ging in das Zimmer ihrer Großmutter zurück, nahm sich den Besuchersessel, rückte ihn an das Bett heran und setzte sich. Das Gesicht ihrer Großmutter war unverändert. Wenn sie nun, aus geringerer Distanz als vorhin genau hinsah, sah sie, dass sich die Nasenflügel, parallel zu dem kaum hörbaren Atmen leicht hin- und herbewegten. Elas Blick sog sich fest an den Einzelheiten des grauen, gedörrten  Gesichts, den fahlen Nasenflügel, die sich im langsamen Rhythmus bewegten, darunter den eingefallene Mund, den Lippen die trocken aufeinandergepresst lagen und den Augen, die fest verschlossen waren.

Ela bewegte langsam ihren Arm auf das Plumeau, strich mit ihrer Hand über den glatten Stoff, griff nach der ihr zugewandten Ecke des Kissens und hob es vorsichtig an. Die Großmutter hatte ein Pflege-Nachthemd an mit offenem Rücken, oben am Hals geschlossen. Sie hob das Kissen so hoch, dass sie auch eine Hand erblicken konnte. Beide Hände lagen übereinander auf dem Bauch, so, als habe sie jemand absichtlich so platziert. Ela rückte noch einmal näher, legte ihre Hand auf die eine Hand ihrer Großmutter und schloss die Bettdecke mit der anderen Hand. Die Hand in der ihren war schmal und knochig und kühl, obwohl es unter dem Kissen ansonsten warm war.

Das Gesicht der Großmutter war unverändert, starr, grau, wachsern, fast so als sei alles Leben schon aus ihm gewichen. Nur das kaum kenntliche Heben und Senken der Nasenflügel, das Auskunft darüber gab, dass das Leben weiterging, der nur

Elas Blick ging zu den Bildern, die über dem Bett hingen. Es waren Bilder aus der Vergangenheit, eine Aufnahme vom Haus, in dem die Großmutter fast fünfzig Jahre gelebt hatte, vielleicht aus den Sechziger Jahren, als noch große Kastanien vor dem Haus gestanden hatten und noch nicht dem aufgrund des stetig steigenden Verkehrsaufkommens nötig gewordenen Straßenausbau hatten weichen müssen, damals als das Trottoir noch so breit gewesen war, dass die Kinder gefahrlos darauf hatten spielen können - bei den wenigen Autos auch, die damals die Straßen befuhren. Noch schwach erinnern konnte sich Ela an die Tage in ihrer Kindheit, an denen die Bäume gefällt wurden. Die ganze Straße wurde abgesperrt und dann kamen sie mit schwerem Gerät. Die Bäume wurden mit Motorsägen zu Fall gebracht und dann zerschnitten und auf schwere Lastwagen verladen. Kurze Zeit später kamen dann die Bautrupps, die Baustelle wurde mit Seilen, an denen wurde rote und weiße Plastikwimpel hingen, abgesperrt. Nachts markierten Bau – Laternen die Grenze der Absperrungen. Die Straße wurde verbreitert, das Trottoir aufs Minimale begrenzt, dafür modern gepflastert, mit neuen Randsteinen, aus hellem Beton, anders als die alten Bruchsteine, die vorher den Straßenrand abgegeben hatten.  

Plötzlich regte sich die Großmutter doch. Mit geschlossenen Augen wandte sich ihr Gesicht Ela zu und dann öffneten sich ihre Augen, nur für einige wenige Momente. Auch die Augen wirkten fahl, glanzlos, aber die Blicke trafen sich und für einen Augenblick hatte Ela das Gefühl, erkannt zu werden. Die Züge des Gesichts änderten sich nicht, nur ein kurzes leises Stöhnen war zu hören, die Augen fielen wieder zu und der Kopf kehrte in die ursprüngliche Position zurück. Ela streichelte über die knochige Hand und zog dann Hand aus der Bettdecke zurück, ließ sich einwenig zurücksinken in den Sessel, in dem sie saß. 

Ela blieb ein, anderthalb Stunden so sitzen. Lukas war zweimal herein gekommen, um nach ihr und ihrer Großmutter zu sehen, fragte nach, bat ihr etwas zu trinken an, was sie aber ablehnte. Dann gab sich Ela einen Ruck, sie stand auf, ging zum Fußende des Bettes, berührte mit ihrer Hand noch einmal das Plumeau, sprach mit gedampfter Stimme: „Oma, ich muss jetzt gehen“ und wandte sich ab, verließt den Raum, die Station, das Heim.

Nächstes Kapitel ...


Projekt Gegensätze - April 2022