Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

2. Kapitel

Die Automatik-Tür öffnete sich, nachdem Ela draußen auf den großen roten Druckknopf gedrückt hatte, und passierte so mit eiligen Schritten den Eingangsbereich. „Guten Morgen, Frau Rasche“ wurde sie von einer jungen Frau begrüßt, die an der Anmeldung saß und von einem Monitor aufgeblickt hatte. Ela grüßte mit einem kurzen Lächeln zurück. Diese Art von Verbindlichkeit hatte sie in diesem Heim überrascht. Nachdem sie einmal vor Monaten ihren Namen gesagt hatte, wurde sie fortan fast immer, wenn sie das Haus betrat, mit Namen gegrüßt. Wann wurde sie sonst schon einmal Frau Rasche genannt? Hinter dem Empfang war ein runder Tisch, an dem zwei junge Leute saßen und zusammen kicherten. Das eine war vermutlich der Zivildienstleistende, der hier auf seine Arbeitsaufträge, meist Fahrten zu Ärzten oder anderen Versorgungstouren wartete, das andere vielleicht eine junge Praktikantin, die sonst auf  Station arbeitete und nun ihre Pause hier unten verbrachte. Ela begriff im Vorbeigehen, wie sehr der junge Mann sein Gegenüber anhimmelte, während sie eher überrascht - amüsiert auf seine engagierte Zuwendung zu reagieren schien.

Ela nahm wie immer die Treppe, um in die zweite Etage zu gelangen. Dort, auf der Station 2 rot, lebte ihre Großmutter seit diesem Frühjahr.

Sie hatte sich von dem Sturz nicht mehr recht erholt. Der behandelnde Hausarzt hatte die Vermutung geäußert, dass seine Patientin nicht einfach gestolpert oder aus Schwäche gefallen sei, sondern dass sie einen kleinen Schlaganfall erlitten habe und deshalb gestürzt sei. Seither hatte Oma ihr Reden praktisch eingestellt. Vorher war es möglich gewesen, sich über alles zu unterhalten. Ela hatte sie ungefähr alle drei, vier Wochen in ihrer damaligen Wohnung besucht, hatte außerdem die Aufgabe übernommen, sie mit Sachen aus dem Reformhaus, das in Elas Straße lag,  zu versorgen und einige Handreichungen in der Wohnung zu erledigen. Oma war immer neugierig gewesen, wie es mit Freunden stehen würde oder eben: ob es da den Einen geben würde. Aus ihren Nachfragen war die Hoffnung der Oma zu schließen gewesen, dann doch irgendwann einmal Urgroßmutter werden zu wollen und da sich bei den drei anderen Enkeln bis dahin ebenfalls keine Elternschaft abzeichnete, ruhten ihre Erwartungen in diese Richtung auch auf Ela.  Ela irritierte dieses Ansinnen: zwar konnte sie ihre Großmutter verstehen, war sie doch nun in einem Alter, in dem es für Kinder langsam aber sicher bereits etwas spät würde, aber Tatsache war auch, dass diese Frage für sie im Moment keine Bedeutung hatte. Auch dafür, wie zu so vielen anderen Dingen schien es ihr an Zeit zu fehlen.

Ela verließ das Treppenhaus und stand im Flur, der nun rechts auf die Station 2 rot führte. Neben dem Aufzugstür, die genau gegenüber der Flurtür lag, war eine Infotafel angebracht, auf dem sich der Heimbeirat präsentierte: Frau Scholz, Station 1 grün war Heimbeiratsvorsitzende, Herr Kraitschek, Station 2 rot, und Frau Erler, ebenfalls Station 1 grün waren ihre Stellvertretenden.  Frau Scholz hatte Ela schon häufige Male gesehen, eine rüstige alte Dame, die häufig kerzengerade an einem dem Eingang des Speisesaals zugewandten Tische saß und meistens auf dozierende Art und Weise auf ihre drei männlichen Tischnachbarn einredete. 

Elas Schritte waren lautlos auf mit rotgrauem Teppich ausgelegtem Stationsflur. Hier im Flur, der an den einzelnen Zimmern der Bewohner und Bewohnerinnen vorbeiführte, gab es nur das wenige Tageslicht, das von den beiden Gruppenräumen, der Küche und dem kleinen Wohnzimmer, seitlich in den Flur fiel. Die Neonlampen an der Decke mussten daher auch tagsüber ständig an sein.  Nun stand Ela vor der Tür der Großmutter, Zimmer 237 und unter der Zahl stand auch der Name: „Frau Rasche“. Ela war immer seltsam berührt, ihren eigenen Namen an dieser Tür zu lesen.  Ela klopfte zweimal kurz zaghaft, wartete aber nicht auf ein Zeichen von innen, sondern drückte gleich die Klinke der sehr breiten und sehr massiv wirkenden Holztür nach unten. Helligkeit kam ihr aus dem Türspalt, den sie behutsam größer werden ließ, entgegen und ein scharfer Geruch. Es war eine Geruchsmischung, die ihr mittlerweile vertraut war, einerseits leicht nach Urin, dann aber andererseits stärker nach Desinfektions- und Pflegemitteln. Von der Tür aus konnte sie das Bett, das rechts um die Ecke stand noch nicht erblicken und so schloss sie hinter sich die Tür und ging vorsichtig die wenigen Schritte bis an die Stelle, an der der Blick auf das Bett und damit auf ihre Großmutter frei sein würde.

Ihr Kopf wirkte klein auf dem voluminösen Kopfkissen und lugte unter dem ebenfalls dick aufgeplusterten Plumeau hervor. Das Gesicht war grau, die Wangen faltig eingefallen, die Mundpartie spitz nach vorne zulaufend. Ihre Zahnprothesen hatte die Oma in letzter Zeit nur noch zu den Mahlzeiten angehabt und so hatte sich ihre gesamte Erscheinung schon in letzter Zeit vollkommen gewandelt. Über der grau-weißlichen ebenfalls spitz zulaufenden Nase und dem Nasenrücken waren die tiefen Höhlen liegenden Augen geschlossen. Die im Laufe der letzten Monate immer spärlicher gewordenen weißen Haare waren strähnig nach hinten gekämmt. Der geschrumpfte Kopf verlor sich in dem riesig wirkenden Bett. Manch einer hätte nach diesem ersten Blick geschlossen, vor einer Toten zu stehen, doch Ela war sich sicher, dass ihre Großmutter noch lebte und richtig, am Fuße des Bettes, die metallene Oberkante des Fußteils mit beiden Händen umgriffen, hörte sie nun ein leises kaum vernehmbares langsam-ruhiges Aus- und Einatmen. Sie war sich sicher gewesen, dass sie nicht zu spät kommen würde.

Sie blieb ein, zwei Minuten ruhig stehen, besah sich das fahle Gesicht der Großmutter, blickte sich einmal in dem Alles war an seinem Platz: Das Nachttischchen, auf dessen Tablettauszug die Reste der letzten Mahlzeit, ein halbvoller Schnabelbecher mit Kaffee, ein Teller mit entrindetem und kleingeschnittenem Marmeladenbrot, das offenbar unberührt geblieben war und das Tagesdosett mit den Tabletten für morgens, mittags, abends und nachts standen. Auf dem Nachttisch eine große Sprühdose Pflegeschaum, deren Deckel fehlte und ein kleiner Stapel Zellstofftücher und an den Rand gedrängt das Telefon mit den überdimensioniert großen Zahlentasten. In der Mitte des Zimmers ein kleiner runder Tisch mit einem kleinen Blumenstrauß, dessen Blüten verblüht waren und zum Teil die Köpfe hängen ließen, eine Programmzeitschrift, nicht mehr aktuell, von vor einigen Wochen mit einem jungen neuen Fernseh-Schauspielerin auf dem Titel, die damals in einer neuen Vorabend-Serie debütiert hatte. Außerdem mehrere Exemplare der Kirchzeitung, die von ihrer Großmutter seit Jahrzehnten im Abonnement bezogen worden war und deren regelmäßig vierzehntägige Lieferung nun auch in das neue Heim erfolgte. Unter den Zeitschriften lugte die Ecke eines in Blumendesign gehaltenem Plastik-Tischsets hervor. Gleich nach der Aufnahme hatte die Großmutter ihre Mahlzeiten noch unten im Speisesaal einnehmen können. Von einer der Betreuerinnen oder von Lukas, einem Pfleger, der ihr besonders ans Herz gewachsen war, war sie im Rollstuhl jeweils zu den Mahlzeiten nach unten gebracht worden. Nach einigen Wochen hatte sie es nicht mehr geschafft und hatte begonnen, die Mahlzeiten an dem runden Tisch in ihrem Zimmer einzunehmen. Seit ein paar Wochen war sie bettlägerig und ihr wurden die Mahlzeiten im Bett serviert. Neben dem runden Tisch stand ein mit dunkelblauem Kunstleder bezogener Sessel, der sich elektrisch in eine Liegeposition bringen ließ. Dann, zum Fenster hin ein im Vergleich zum Elektro-Sessel sich schmächtig ausmachender gepolsterter Sitz für Besucher. Ela wandte sich ohne ihre Hände vom Bett zu nehmen, nach hinten. Auf einem Sideboard, es hatte in der früheren Wohnung im Wohnzimmer gestanden, eine ganze Galerie von Familienfotos, ganz links der Ehemann, Elas Opa, der bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg inmitten der Wirtschaftswunder – Jahre an einem Krebsleiden gestorben war, daneben jeweils auf eigenen Bildern die beiden Kinder mit ihren Familien. Elas Mutter zusammen mit Ela, damals so um die fünfzehn und die zwei Jahre ältere Schwester von Ela, Margret, alle drei nebeneinander, mit den Armen sich gegenseitig Ganz rechts auf dem Board dann das Bild eines Mischlingshundes, der der Großmutter gehört hatte, aber auch schon seit fast zwanzig Jahre tot war.

Ela wandte sich wieder ihrer Großmutter zu. Nach wie vor lag sie unbeweglich in ihrem Bett, leise war ihr Ein- und Ausatmen zu hören.

Nächstes Kapitel ...


Projekt Gegensätze - April 2022