Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

12. Kapitel

Ela ging hastig durch die Straßen. Der Weg vom Friedhof nach Hause war ihr nicht geläufig. Sie war noch vollkommen aufgelöst angesichts dessen, was passiert war. Es war ihr passiert, kein lang gehegter Plan, der umgesetzt worden war, sondern es war über sie gekommen. Sie hatte ihre Hände in den Taschen ihres schwarzen kurzen Mantels vergraben und eilte voran. Die Tränen hatte ihre zart aufgetragenen Kaial zerlaufen lassen. Sie musste nachdenken, überlegen: Es entsprach zum Teil nicht einmal ihrer Überzeugung, und doch hatte sich in dieser Situation die Spannung der letzten zwei, drei Wochen genau so artikuliert. Sie machte sich selbst Vorwürfe, sie machte ihrer Mutter und ihrer Tante Vorwürfe, vor allem aber war ihr der Doktor zuwider. Damals, in seiner Praxis, hatte sie sich, sonst nicht auf den Mund gefallen, von seiner Rede, von seinem ganzen Auftreten einschüchtern lassen. Sie war nicht in der Verfassung gewesen, ihn konsequent zur Rede zu stellen, mit ihm zu streiten, ihn anzugreifen. Und jetzt? Sie war verzweifelt: sie dachte an ihre Großmutter, die nun in ihrem Sarg lag, die Beerdigung würde vielleicht schon beendet sein: Der letzte Segen des Pastors, dann das Herantreten aller vor das offene Grab. Jeder auf seine Art: entweder die Schaufel in die Hand nehmen, einwenig Sand aufnehmen und dann mit leichtem Schwung nach vorn in die Grube gleiten lassen, oder aber eine der kleinen Rosengebinde nehmen und sie auf den Sarg werfen, die einen bekreuzigen sich, die anderen bleiben starr, bis sie sich mit einem Ruck abwenden. Von Beileidskundgebungen am Grab bitten wir abzusehen, stand in einigen Todesanzeigen. Großmutter hatte keine Anzeige bekommen. Es lohne sich nicht, sie sei in der Stadt ohnehin nicht mehr bekannt, in ihrem Alter sind fast alle bereits weggestorben und die Anzeigenpreise der Lokalzeitung sind auch nicht unbedingt erschwinglich. Und so würden sie, Renate und Edith als Töchter und einzige enge Verwandte, nun das herzlichen Beileid der anderen in Empfang nehmen, sicher der ein oder andere mit einer verbalen oder eher nicht verbalen Stellungnahme zu dem, was passiert war. Eine besonders betroffene Miene, herzliches Beileid zum Tod ihrer Mutter und zum Zustand ihrer Tochter und Nichte.

Ela trat, ohne die nötige Vorsicht auf die Straße, ein Auto hupte und der Fahrer schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.  Sie hatte nun schon gut die Hälfte auf dem Weg nach Hause zurück gelegt. Bisher war sie an höchstens zwei- oder zweieinhalb-stöckigen Ein- und Mehrfamilienhäusern aus den 60ger Jahren vorbeigegangen, die nicht direkt an die Straße grenzten, sondern ein Stück nach hinten versetzt waren und hinter teils mühevoll gepflegten, teils verwilderten Vorgärten lagen. Daraus wirkte die Straße breit, ergab sich eine Großzügigkeit des Raumes, der Blick war frei. Nun würde sie in das Viertel eintreten, dessen Häuser meist  schon vor dem Ersten Weltkrieg gebaut worden waren und die auch dem Luftangriffen des Zweiten Weltkrieg entronnen waren. Hier standen die drei bis vierstöckigen Häuser dicht an dicht und die Straße wirkte eng zwischen den hohen Fassaden. Plötzlich hörte Ela einen kurzen Ruf von der anderen Straßenseite: „Hey, Du, lange nicht gesehen!“. Drüben auf dem Bürgersteig stand ein junger Mann zu ihr gewandt und winkte: „Warte, ich komme rüber“ und schon überquerte er die sonst vielbefahrene, aber gerade jetzt verkehrslose Straße. Es war der junge Mann vom Lebensmittelgeschäft von vor einigen Tagen, Ela hatte seinen Namen wieder vergessen, erkannte ihn aber zweifelsfrei. „Hallo“, sagte sie kurz, als er ihr gegenüber stand. „Wie siehst du denn aus, was ist denn mit dir passiert? Ist was mit deiner Großmutter?“, fragte er behutsam, als er an Elas Erscheinungsbild, an den Spuren von Tränen ihn ihrem Gesicht, ihrer angestrengten Miene und ihrer angespannten Haltung erkannte, dass etwas nicht stimmen konnte. „Ja, es ist was schlimmes passiert“, antwortete sie, „ich muss weiter, bis dann einmal!“ Verdutzt, aber sicher, jetzt nicht nachsetzen zu sollen, blieb Kai stehen, während Ela ihren Weg mit schnellen Schritt fortsetzte.  Erstaunlich, dass er sich daran erinnert, dass was mit meiner Großmutter war, dachte Ela, die irritiert war von dieser unerwarteten Begegnung. Zunächst hatte sie noch einige Male an diesen Kai denken müssen, doch dann im Anschluss war er ihr aus dem Gedächtnis gerutscht. Sie konnte nicht einmal sagen, wo der kleine Zettel mit seiner Telefonnummer war, den er ihr damals im Supermarkt in die Hand gedrückt hatte. Gut möglich, dass er längst verloren gegangen, in den Müll geraten oder in einer Tasche mitgewaschen worden war. 

Ela erreichte ihre Wohnung. Sie schloss ihre Wohnungstür auf, legte den Mantel ab, ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und legte sich auf das Sofa, das an der Wand ihres kleinen, spärlich eingerichteten Wohnzimmers stand. Sie hatte nicht geahnt, dass dieser Tag so verlaufen würde. Sie hatte sich von ihrer Großmutter nicht richtig verabschieden können, sondern war während des Begräbnisses dem Grab entflohen und sie hatte eine ganze Menge Menschen, allen voran ihrer Mutter und Ralle vor den Kopf gestoßen. Die Anschuldigung, dass ihre Großmutter von den Menschen in ihrem Umfeld im Stich gelassen und mehr noch, ihr Tod frühzeitig herbeigeführt worden war, diese Anschuldigung fand sie berechtigt, doch weniger mit dem Ziel, eben jene Menschen, zu denen ja auch sie selbst zählte, zur Rechenschaft ziehen zu wollen, sondern um die Menschen, die dort auf dem Friedhof versammelt gewesen waren, die Allgemeinheit aufzurütteln. Das, was ihrer Großmutter widerfahren war, was mit ihr gemacht worden war, das, da war sich Ela sicher, war kein Einzelfall, sondern eine tödliche Praxis, die immer mehr um sich griff. Während die gesellschaftlichen Diskussionen sich um unmenschliche lebensverlängernde Maßnahmen und eine juristische Zulassung aktiver Sterbehilfe drehte, war hier bereits seit Jahren ein Umgang etabliert, der in ihrem Land Tausenden, vielleicht Zehntausenden jährlich zum Opfer fielen. Natürlich war ein Begräbnis nicht der geeignete Ort für eine gesellschaftskritische Manifestation, schon einmal gar nicht  das Begräbnis der eigenen Großmutter und doch war es nun so gekommen. Leid tat ihr ihre Mutter, die sicher verstört und zerstört auf dem Friedhof zurückgeblieben war.

Und die Sache mit Ralle, die war ihr dann auch noch so rausgerutscht. Ralle war ihr Freund, schon lange, lange Jahre und wie sehr hatte sie im Stillen daran gearbeitet, sich darum gemüht, dass er endlich das Trinken aufhören möge. Doch der Alkohol war immer stärker gewesen. Nach ihren Gesprächen hatte Ralle schon tausend mal versprochen, seinen Bierkonsum einzuschränken, doch es war langsam, aber sicher immer schlimmer geworden. Er hatte keine Perspektive für sich und sein Leben: die wenig erfolgreichen Bemühungen, sein Studium voranzubringen versandeten immer wieder in monatelangen Phasen totalen Abhängens. Er hatte nur Glück, dass seine Wohnung so günstig war und er mit den Einkünften aus seinen zwei Jobs gerade so durchkam: mittwochs und freitags an einem Gemüsestand auf dem Wochenmarkt, dazwischen und an Wochenenden häufig als Helfer bei einem Zeltverleih. Die Markttage bedeuteten frühestes Aufstehen, der Auf- und Abbau der Zelte war Knochenarbeit und abends nach der Arbeit war Ralle immer total erledigt. Er war für Ela der liebste Mensch, schon kurz nach der Schule hatten sie sich kennen gelernt. Zunächst waren sie zusammen gewesen, dann wieder getrennt für zwei, drei Jahre und nun waren sie schon seit zehn Jahren zusammen. Sogar zusammen gewohnt hatten sie eine Weile.

     

Vorläufiges Ende - Erstes Kapitel ...


Projekt Gegensätze - April 2022