Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

11. Kapitel

Der Fortgang der Beerdigung ihrer Großmutter hatte für einige Furore gesorgt.  Niemand hatte mit einem solchen Ausbruch gerechnet und die schockierten oder eher Abscheu ausdrückenden Interpretationen des Geschehens gipfelten in drastischer Wortwahl: Ein unerhörter Eklat sei das gewesen, ein unglaubliches Verhalten und in vielen Variationen wurden die Worte „krank“ und „krankhaft“ verwendet. Die Empörung, ein solches Auftreten bei einem Begräbnis zu zeigen, war einhellig. So etwas habe man bei einer Beerdigung noch nicht erlebt und weiter, man habe auch noch nie gehört, dass sich so etwas jemals irgendwo ereignet hätte. Auch Konsequenzen wurden gefordert: bis hin zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Tat gingen die Vorstellungen derer, die Zeugen des Geschehens geworden waren. Moderatere Stimmen sprachen eher von der Notwendigkeit einer psychiatrischen Therapie, salopp zum Ausdruck gebracht durch den Begriff „Klapsmühle“.

Abhängig war der Charakter der Äußerungen auch von der Art der Beziehung oder dem Grad des Bekanntseins: die Familie reagierte natürlich mit einem ungleich höheren Maß an Empathie für Ela, während andere Trauergäste, die sie nicht oder nur wenig kannten nur mit reiner Ratlosigkeit, wie ein Mensch so sein könne, sich zu etwas Derartigem hinreißen lassen könne, reagierten. Anerkennung irgendeiner Art für die Tat war auf jeden Fall zunächst bei keinem zu erkennen. Vielmehr fühlten sich die meisten ja mehr oder minder massiv persönlich angegriffen, was ja nach dem Gang der Dinge auch nicht weiter verwunderlich war. Schließlich hatten ja alle ihr Fett, oder konkreter: ihren Dreck abbekommen.

Nachdem der Pastor seine letzten Worte an die Trauergemeinde gesprochen hatte, erschienen die sechs in schwarze Mäntel gehüllten Männer auf dem Altar, räumten den Blumenschmuck zur Seite und postierten sich an den sechs Tragegriffen des Sarges. Auf ein Zeichen des Mannes vorne rechts hoben sie den Sarg an und trugen ihn vorsichtig zunächst die beiden Stufen vom Altar hinunter und dann durch den Mittelgang in Richtung Ausgang. Hinter dem Sarg reihte sich zunächst der Pfarrer ein, dann die Angehörigen aus den ersten Reihen und schließlich diejenigen, die in den hinteren Reihen gesessen hatte. Durch die geöffneten Flügel des Ausgangs fiel kräftiges Licht in die Kapelle. Nachdem der Tag frühmorgens eher neblig-grau begonnen hatte, hatte sich nun die Sonne durch den Nebel hindurchgearbeitet. Die Sonne beschien den Sarg und ließ das Furnier deutlich freundlicher erscheinen als in der Düsternis der Kapelle. Die Totengräber schwenkten scharf nach rechts, durchschritten das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs und gingen in einen der Hauptwege, die den Friedhof durchzogen. Hinter dem Sarg nahm nach wie vor der Pfarrer die erste Stelle ein, dahinter die beiden Töchter der Verstorbenen, knapp dahinter der Lebensgefährte von Renate, dann Ela und Ralle, gefolgt von Doro und dem Ehepaar Nolte und dem Rest der Trauergemeinde, insgesamt rund dreißig Personen, die vorwiegend dunkel gekleidet nun dem Sarg folgten.

Die meisten Mienen waren unbewegt und die Blicke starr nach vorne gerichtet. Nur in den hinteren Teil steckten einzelne ihre Köpfe zusammen und tuschelten sich einzelne Sätze zu. Nach ungefähr hundert Metern, an einer großen Kastanie, in deren Blätterwerk nun im Spätsommer bereits die stacheligen Hüllen der kommenden Früchte zu sehen waren,  bogen die Sargträger in einen schmaleren Seitenweg ein.  Hier wurde der Untergrund unebner und der Tross hinter dem Sarg zog sich mehr in die Länge. Ela konnte nun von weitem links in einem der Gräberfelder einen Erdhaufen erkennen, genau da, wo auch ihr Großvater vor Jahrzehnten seine letzte Ruhe gefunden hatte. Oft hatte sie sich, als sie klein war, mit der Großmutter auf den Weg hierher gemacht, sie hatten Blätter vom Grab geharkt, hatten verwelkte Blüten und Unkraut gezupft. Die Großmutter war mit Ela zur Wasserstelle gegangen, hatte eine der Friedhofskannen geholt, die an einem nahe gelegenen Halter hingen und hatte mit einem belehrenden, immer wieder vorgetragenen „Weißt du, das abgestandene Wasser ist besser für die Blumen“ die Kanne in das Wasserbecken gestossen, die sich dann mit glucksenden Geräuschen rasch mit Wasser gefüllt hatte. Anschließend war auch Elas kleine Kinder – Gießkanne befüllt worden und dann ging es zum Grab, wo die blühenden Pflanzen, meist Alpenveilchen und Stiefmütterchen mit viel Wasser bedacht wurden, die immergrünen kleinblättrigen Bodendecker hingegen mit dem spärlichen Rest Vorlieb nehmen mussten. Gelegentlich wurde auch eine Kerze aufgestellt und entzündet. Ela hatte dann jeweils die kleine Klappe des Kerzenhalters schließen dürfen. Nachdem die Kinder-Kanne wieder hinter dem Grabstein deponiert worden war, wurde noch kurz Abschied genommen vom Großvater, den Blick auf den polierten Stein: „Wilhelm Rasche 12.3.1914 – 23.9.1975“. Von dem kleinen Mädchen, das da ehrfürchtig vor dem Grab ihres Großvaters stand war es ein weiter Weg zur Mittdreißigerin, die an diesem wichtigen Tage derart aus der Rolle fallen sollte.

Der Trauerzug hatte sich nun dem Erdhügel und, viel wichtiger, der daneben befindlichen tiefen Erdgrube genähert. Die Totengräber waren mit vorsichtig Schritten auf die Bretter getreten, die rechts und links an den mit Kunststoffgras dekorierten Abgründen entlang gelegt worden waren. Nun gaben sie sich erneut Zeichen und brachten den Sarg mit erkennbarer Mühe von ihren Schultern auf die beiden Kanthölzer, die quer über dem Loch lagen. Nach dem langen Weg sichtlich erleichtert streckten sich die Männer, verweilten kurz, bis sich auch die letzten des Trauerzuges in der Nähe des Grabes eingefunden hatten und setzten dann ihre Arbeit fort. Vier von ihnen nahmen die Ende der zwei starken Stricke, die neben den Kanthölzern unter dem Sarg herliefen in ihre Hände, zogen dann gemeinsam an, sodass sich der Sarg um einige Zentimeter hob. Die beiden Männer, die noch freie Hände hatten, zogen nach rechts und links die Kanthölzer weg und schon senkte sich der Sarg mit leichtem Ruckeln in die Tiefe. Dann legten die Männer die Seile aus den Händen und traten nach hinten in Richtung der Gebüsche weg.

Die Trauergemeinde stand nun eng um das Grab herum, der Pastor direkt rechts neben dem Grab, die Familie, in ihrer Trauer eher gebückt und neben der stattlichen Statur des Pastors klein wirkend an vorderster Front, dahinter eng zusammen gerückt die übrigen Begräbnis - Teilnehmer. Nun erhob der Pastor die Stimme, die unter freiem Himmel nicht ganz so dunkel wirkte, aber auch hier tragend war: „Lasset uns beten“, begann er die nun obligatorische liturgische Prozedur. Nun wurde das „Vater unser“ gebetet und gerade als die Gemeinde, auch jetzt geführt von der Stimme des Pastors,  beim „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ angekommen war,  erklang aus der Mitte der Menge ein lautes „Nichts wird vergeben! Ich bitte nicht um Vergebung und ich vergebe auch nicht! Nicht mir! Und keinem anderen!“ Das Gebet brach sofort ab. Ela war rasch einen Schritt nach vorne unmittelbar vor das Grab getreten, hatte sich umgewandt und hatte ihren Blick auf die ihr nun gegenüber stehenden Leute gerichtet. Sie stand nicht mehr gebückt da, sondern hatte sich aufgerichtet, gerade gemacht und schien so die Umstehende zu überragen: „Dieses ganze verlogene Geschwafel! Meine Großmutter könnte noch leben! Dieser Arzt, mit Morphium hat er sie abgespritzt!“ Ela schrie noch lauter: „Und ich und alle anderen haben`s passieren lassen!!“ Ihre Stimme überschlug sich nun: „Und eines Tages wird das normal geworden sein: Mit 80 ist Schluss, dann gibt’s die Spritze und ab! Und wir alle, wir alle gucken zu!“. Die Umherstehenden waren erstarrt, erst jetzt löste sich Ralle und ging auf Ela zu. Die aber ergriff in einer blitzschnellen Bewegung die kleine Schaufel, die neben dem Grab in einem kleinen Sandhaufen steckte und fuhr ihren Freund an: „Rühr mich nicht an!“ Ihr Gesicht verzog sich in Wut-verzweifelt zu einer Fratze, „Rühr mich nicht an, du Säufer!“ Mit der Schaufel quer vor ihrem Oberkörper, zum Schlag bereit, stand sie nun ihrem Freund gegenüber, wie zwei Kontrahenten bei einem Kampf. Nun mischte sich der Pastor ein, von hinten kam er auf Ela zu und versuchte zu beruhigen: „Frau Rasche, nun kommen sie zu sich“, sagte er streng. Elas Mutter und Elas Tante blieben starr, während Ralle vor seiner mit Schaufel bewaffneten Gefährtin zurückwich. Doro trat hervor und versuchte, mit einem „Hey, Ela, was ist denn los?“ „Ihr werdet alle sehen: Ich werde mich damit nicht zufrieden geben!“ hob Ela erneut an, schmiss dann mit voller Wucht die Schaufel neben dem Grab auf die Erde und wandte sich mit einem „Arschlöcher“ in jene eine Richtung, in der sie unbehelligt die Szenerie verlassen konnte. Doro folgte ihr, ohne sie aber einholen zu wollen. Nachdem die beiden außerhalb der vermeintlichen Hörweite waren, begann der Pfarrer erneut: „Vater unser im Himmel...“. Die Anwesenden stimmten nur zögerlich erneut in das Gebet ein. Renate und Edith waren Tränen überströmt, Edith suchte Halt bei ihrem Lebensgefährten, während  Renate sich an Ralle hielt, der den Blick gesenkt hatte und offenbar nicht mehr wagte aufzuschauen. In den hinteren Reihen erhob sich empörtes Flüstern.

     

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Projekt Gegensätze - April 2022