Gegensätze | global denken - lokal handeln

  Titel Erzaehlung

10. Kapitel

Es war eine Kapelle, die im 18. Jahrhundert erbaut worden war. Sie lag in einem kleinen Wäldchen am Rande der Stadt, unmittelbar neben dem Friedhof. Das karge Innere wurde beleuchtet von dem wenig Licht, das an diesem trüben Tag von außen durch die bunten kleinen Seitenfenster in das einschiffige Gebäude fiel und von schlichten Lampen, die sich an langen Kabeln von der gewölbten  Decke runterhängen ließen. Vorne, im Altarraum war der Sarg aufgebahrt, dunkles Eichenholz-Furnier, mit bronzen-farbenen Beschlägen. Rechts und links war der Sarg von mannshohen, nach hinten zusammenlaufenden  Lorbeer-Bäumen umstellt. Hinter dem Sarg brannten auf mächtigen Kerzenhaltern sechs Kerzen. Auf dem Sarg ein Gebinde mit Lilien und Astern, vor dem Sarg eine kleine Anzahl von Kränzen und weiteren Gebinden, im Stil sich sehr ähnelnd, was ein Hinweis darauf war, dass die Trauergemeinde vorwiegend bei ein- und demselben Floristen ihre Bestellungen für den heutigen Tag abgegeben hatten. Über dem Sarg hing ein schlichtes aber mächtiges Kreuz von der Altarkuppel. Im Hintergrund hing halb links ein Bild, das den gekreuzigten Jesus zeigte und die vier, fünf Gestalten, die unterhalb des Kreuzes kauern und halb ehrfürchtig, halb entsetzt auf den Gekreuzigten blicken.

„Liebe Gemeinde, wir sind heute hierher gekommen, um gemeinsam Abschied zu nehmen von Frau Magdalena Rasche. Möge der Segen Gottes mit uns sein“, begann der Pfarrer, der sich nachdem zuletzt die schwere hölzerne Eingangstür ins Schloss gefallen und der Hereinkommende einen Platz in der hinteren Kirchenbank eingenommen hatte, aufgestanden war und sich an das zierliche Predigtpult begeben hatte. Der Pfarrer war von großer, mächtiger Statur und hatte eine dunkle durchdringende Stimme. Nun wandte er sich unmittelbar an jjene, die in der ersten Reihe saßen: „Begrüßen möchte ich die Angehörigen von Frau Rasche...“.

In der linken vorderen Reihe saßen Elas Mutter, ihre Tante Renate und ein Mann, den Ela nicht kannte, den sie aber von seinem Auftreten her als den neuen Weggefährten Renates ausmachte. In der Reihe dahinter Ela, rechts neben ihr Ralle, links neben ihr Doro, die sich tatsächlich für den heutigen Vormittag in der Uni frei genommen hatte, um ihrer Freundin zur Seite stehen zu können. Rechts vom Mittelgang waren die ersten Reihen frei geblieben, dahinter hatte Ela einige ehemalige Nachbarn und Nachbarinnen ihrer Großmutter ausgemacht. Unter anderem das Ehepaar Nolte, das im Obergeschoss des Hauses wohnten und ein kauziger Alter, dessen Grundstück unmittelbar an das der Großmutter grenzte und mit dem Oma früher in einer Dauerfehde über herüberhängende Zweige und ähnliche Affären verstrickt gewesen war. Außerdem war eine Vertreterin des Seniorenheims gekommen, keine Pflegerin der Station oder Lukas, wie Ela gehofft hatte, sondern eine Mitarbeiterin des begleitenden Sozialdienstes, die vor Monaten auch für die Aufnahme-Modalitäten zuständig gewesen war. Ganz hinten hatten sich noch einige Leute eingefunden, die Ela bei ihrem vorsichtigen Umblicken bisher nicht hatte identifzieren können, vielleicht weil es sich um jenen Kreis Menschen handelte, die sich notorisch auf Trauerfeiern, Beerdigungen, aber auch Gerichtsverhandlungen, öffentlichen Anhörungen und ähnlichem herumtrieben und sich somit ihre Tage abwechslungsreich gestalteten und damit auch keine allzu hohen Ausgaben verbunden waren.

Nachdem der Pfarrer seine Einladungsworte beendet hatte, lud er die Anwesenden ein, gemeinsam ein Lied anzustimmen: „Wir singen das Lied Nummer 351- Nun wollen wir lobpreisen“. Aus einer kleinen Nische rechts vom Altar ertönten die ersten durchdringenden Klänge einer Kleinorgel. Nach einem kurzen Vorspiel begann der Pastor mit kräftiger Stimme das Lied und die Trauergemeinde in den Kirchenbänken stimmte nur zögerlich und zaghaft in den Gesang ein. Ela fühlte sich vollkommen überfordert: Seit Jahrzehnten war sie nicht in der Kirche gewesen, das Liedgut des Gesangsbuches ihr vollkommen fremd und überhaupt hatte ihr das Singen schon in der Schule nicht sonderlich gelegen.

Die Großmutter war im Laufe einer Nacht, knapp eine Woche nach der ersten Benachrichtigung Elas, verstorben. Am Morgen hatte das Altenheim bei Elas Mutter angerufen und mitgeteilt, dass die Mutter gestorben sei. Ela wurde von ihrer Mutter informiert, wenig später mit dem Auto abgeholt und gemeinsam fuhren sie in das Heim. Als die beiden Frauen das Zimmer betraten, spürten sie die Veränderung: nicht nur der Leichnam im Bett war regungslos, auch das Zimmer war tot: Sämtliche Spuren des Lebens waren bereits weggeräumt: Kein Trinkbecher mehr auf dem Nachttisch, keine Pflegemittel mehr in Griffweite der Pflegerinnen, die Gegenstände auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers waren alle bereits zusammengeräumt. Auf dem Nachttisch brannte stattdessen eine Kerze. Ein vollkommen fremder Geruch beherrschte den Raum. Ela und ihre Mutter nahmen sich Stühle und setzten sich neben das Bett. Das Bett war offenbar neu bezogen. Am Kopfende das graue, nun vollkommen eingefallene Gesicht. Die blutleeren Lippen schmal, fast unkenntlich, spitz zusammenlaufend.

Ela und ihre Mutter blieben eine Stunde, um Abschied zu nehmen. Einmal kam Lukas herein, gab beiden Frauen die Hand und sprach sein Beileid aus, sehr betroffen, wie es Ela schien, obwohl das Sterben für ihn wohl fast zur Alltagsroutine gehörte. Sein „Es tut mir leid, Frau Rasche“, das überzeugte Ela. „Danke für alles, was sie für meine Mutter getan haben“, sagte Elas Mutter mit brüchiger Stimme. Lukas fuhr fort: „Glauben sie, für ihre Mutter und Großmutter war es das Beste. Sie hatte keinen Willen und keine Kraft mehr und nun können wir alle hoffen, dass es ihr besser geht, da, wo sie jetzt ist“.

Das Lied war beendet und der Pfarrer begann eine Ansprache an die Trauergemeinde. Elas Großmutter war zeit ihres Lebens eine regelmäßige Kirchgängerin gewesen, doch zum Gemeindepfarrer hatte sie nie engeren Kontakt. Sie gehörte nicht zu dem Kreis älterer Frauen, die sich durch Gemeindearbeit hervorgetan hätte. Der Pfarrer hatte sie aber in den letzten Jahren zu ihren runden Geburtstagen besucht. Ab dem fünfundsechzigsten war er alle fünf Jahre an den Geburtstagen erschienen, meistens am Vormittag, hatte sich die Küche gesetzt und hatte eine halbe Stunde bei einer Tasse Kaffee Konversation betrieben. Er hatte sich erkundigt nach dem Befinden, wie es mit den Kindern stünde. Elas Großmutter hatte diese Besuche immer geschätzt, war erstaunt über die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Ela hatte ausgerechnet, dass die Geburtstagsbesuche bei der Größe der Gemeinde durchaus eine zeitlich aufwändige Aufgabe für den Pastor sein musste. Ging man von dreitausend Seelen aus, von denen fünfundzwanzig Prozent über 65 waren, so standen pro Jahr einhundertfünfzig Besuche, das heisst fast alle zwei Tage ein halbstündiges Kaffeetrinken an, zumindest dann, wenn wirklich alle einschließlich der für die Kirche verlorenen Schafe mit dieser Form von Aufmerksamkeit bedacht werden sollten.

Der Pfarrer konnte somit bei der kurzen Erinnerung an Frau Rasche, die dem Eingangslied folgte, auf einige persönliche Begegnungen mit ihr zurückgreifen. Er skizzierte kurz die Stationen ihres Lebens, er betonte, bei seinen zurückliegenden Geburtstagsbesuchen eine bescheidene, aber auch resolute Frau vor sich gehabt zu haben und schloss mit der in seinen Augen tröstlichen Vorstellung, dass sie nun von Gott heim geholt worden sei und da, wo sie jetzt sei, ihren Frieden finden werde.

Es folgte ein weiteres Lied und einige der Anwesenden dürften in der Folge in die eigenen Gedanken versunken sein bis dann schließlich der Pfarrer den Segen sprach und mit einem  „Nun wollen wir Frau Magdalena Rasche zu Grabe tragen“ den sich mittlerweile in der kleinen Sakristei versammelten Sargträgern das Zeichen gab, mit ihrer Arbeit zu beginnen.

     

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Projekt Gegensätze - April 2022