
1. Kapitel
Ela trat aus der Tür, eilte die drei Stufen hinab, die zum Trottoir führten und wandte ihre Schritte nach links. Sie war spät dran, in circa drei Minuten würde der Bus von der nächstgelegenen Haltestelle abfahren.
Trottoir war ein Wort ihrer Kindheit: Samstag für Samstag galt es damals für den Großvater mit einem groben Besen den Bürgersteig vor dem Haus zu fegen und dabei gab es die mal milde, mal scharf vorgetragene Aufforderung der Großmutter an Ela, auf dem Trottoir nicht herumzutoben. Mit Trottoir verhielt es sich so wie mit Plumeau, auch ein Wort ihrer Kindheit. „Ich habe Dir das Plumeau bezogen“, erklärte die Großmutter gelegentlich, als es abends ins Bett ging: Und tatsächlich war sowohl das Kopfkissen als auch das dicke, schwere Plumeau mit dem rosa-weiss karierten Bettbezug, dem Lieblings-Bettbezug, weil er so sich so glatt und kühl auf der Haut anfühlte, frisch bezogen.
Nur noch selten erinnerte Ela sich dieser Worte und noch seltener, fast nie, gebrauchte sie diese Worte. Sie war sich nicht sicher, ob sie noch verstanden werden würden, diese Worte, die sich offenbar langsam aus dem allgemeinen Sprachgebrauch hinausgeschlichen hatten. Vielleicht waren es regionale Besonderheiten gewesen, Relikte aus der Zeit, als das Rheinland unter französischen Einfluss stand und die Bevölkerung den einen oder anderen Begriff von den Franzosen übernommen hatte. Sie würde dieser Frage, wenn sie einmal viel Zeit haben würde, auf den Grund gehen wollen. Es gab so viele Fragen, die ihre Neugierde weckten, die es zu beantworten galt, aber jede Suche nach einer Antwort kostete Zeit.
Es war ein heller Tag. Es war Anfang September und die Sonne hatte sich schon so weit hochgearbeitet, dass sie auch in die Enge der Straße fiel. Sie hastete mit schnellen Schritten an den Häuserfassaden entlang. Altbauten standen links und rechts der Straße, wo gerade zwei schmale Fahrbahnen und schmale Bürgersteige Platz hatten. Ende des 19. Jahrhunderts, so hatte Ela es in einer Stadtchronik gelesen, waren die Häuser in diesem Viertel gebaut worden. Nun waren einzelne Fassaden heruntergekommenen, der Putz blätterte ab und an einigen Häusern fanden sich bis zu Mannshöhe teils bereits blass gewordene oder notdürftig übermalte, teils ganz frische Graffitis. Andere Fronten waren aufwendig renoviert, meist in Pastelltönen frisch gestrichen, und das für die Gründerjahre typische Fassadendekor mit seinen Bossesteinen war, wo es nicht einer zusätzlichen Außendämmung gewichen war, mit großem Aufwand restauriert worden. Der Zeitenwandel hatte vieles mit sich gebracht: Am Ende der Kaiserzeit waren Pferdefuhrwerke durch die unbefestigten, vielleicht auch gepflasterten Straßen gefahren, ein langer Weg bis zur Gegenwart, in der zuletzt der Autoverkehr immer dichter geworden war.
Beim Aufbruch war sie sich sicher gewesen, dass sie den Bus noch erreichen würde und doch war sie erleichtert, als sie um die Ecke bog und an der Haltestelle noch eine kleine Gruppe Menschen stehen sah, die offensichtlich auf den Bus warteten.
Der Anruf war unvermittelt gekommen, etwa vor einer halben Stunde. Die Nummer, die sich während des Klingelns auf dem Display zeigte, hatte sie sofort einordnen können. Die ersten vier Ziffern deuteten auf das Marienstift hin, das Heim, in der ihre Großmutter seit einem halben Jahr lebte. Die Stimme der Stationsleiterin am Telefon war ernst gewesen und hatte berichtet, dass der Zustand der Großmutter plötzlich zur großen Sorge Anlass geben würde und dass es wichtig sei, dass Angehörige vorbei kommen würden. Man habe bereits die Kinder zu verständigen versucht, doch niemand sei erreicht worden. Und so habe man nun als letzte auf der Liste mit Telefonnummern von Angehörigen die Nummer der Enkelin gewählt. Als Ela nach dem Anruf das Telefon in der Hand hielt, überlegte sie zunächst, ein Taxi zu rufen, entschied sich dann aber dagegen. Dass es sich um einen Wettlauf mit der Zeit handeln würde, so hatte sie den Anruf nicht verstanden. Ihr Fahrrad, das sie sonst für alle Fahrten nutzte, stand mit einem Platten im Erdgeschoss – Flur. Eigentlich hatte sie den Vormittag unter anderem damit verbringen wollen, das Rad zu reparieren.
Es waren nun gegen zehn Uhr viele, die den Bus besteigen wollten, vorwiegend junge Leute mit Rucksäcken oder handlichen Taschen, die auf dem Weg zur Uni waren. Ela drängelte sich nicht vor, denn es war ihr klar, dass ein Drängeln sie nicht schneller an ihr Ziel bringen würde. Das war eine ihrer Stärken, dass sie sich nicht von Augenblicklichkeiten aus der Ruhe bringen ließ, sondern dass es ihr gelang, wenn andere begannen, unvernünftig zu handeln, die Vernunft zu bewahren. Nachdem sie als vorletzte den Bus bestiegen hatte, ihr Viererticket am Entwerter abgestempelt hatte, nahm sie auf einem der wenigen noch unbesetzten Sitze im Bus Platz.
Wenige Augenblicke später fuhr der Bus an. Ihr gegenüber saß ein alter Mann mit faltigem Gesicht, dessen beiden Hände auf dem Griff seines Stocks ruhten, den er zwischen seinen Beinen platziert hatte. Mit Mühe hielt er die Balance, wenn der Bus in den engen Straßen des Viertels um eine Kurve fuhr oder bremsen musste. Der Bus kam zu dieser Zeit nur langsam voran. Immer wieder musste er halten, um entgegenkommende Fahrzeuge passieren zu lassen. In der Höhe einer Großbaustelle musste er auf einen Betonmischer warten, der sich abgesichert von einem Bauarbeiter, der mitten auf der Straße lustlos ein dreckiges rot-weißes Fähnchen vor sich hinhielt, rückwärts in eine Einfahrt fädelte. Ela, eigentlich Michaela, hatte das Geschehen hier an dieser Ecke seit Monaten verfolgt. Anfang des Jahres waren das Verwaltungsgebäude und die Werkhallen der ehemaligen Fahrradfabrik, die schon vor vier, fünf Jahren ihre Tore geschlossen hatte, abgerissen worden. Nachdem auch die Fundamente abgetragen worden waren, war schließlich durch weitere Ausschachtungen eine imposante Baugrube entstanden. Dann war lange Zeit nichts geschehen. Späte Schneefälle hatten die Baugrube in ein riesiges weißes Loch verwandelt und später hatten heftige Frühjahrs-Niederschläge unten im Loch einen großen See entstehen lassen.
Ela hatte gelegentlich, als sie auf dem Weg zu Einkäufen in der Innenstadt mit ihrem Fahrrad hier vorbei gekommen war, angehalten, um die nach dem Abriss der Gebäude frei gewordene Sicht auf sich wirken zu lassen. Von hier hatte man eine besondere, eine fremde, eine einmalige Perspektive auf die Silhouette der Innenstadt, das Profil sich abwechselnder moderner Geschäfts- und Verwaltungsgebäude und den historischen Kirchenbauten. Hier gab es für einige Wochen, einige Monate etwas zu sehen, was es dann viele Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert oder länger, gewiss für einen selbst, die eigene Generation und wahrscheinlich für einige weitere Generationen, nicht mehr zu sehen geben würde. Manchmal dachte sie dann: Ganz allgemein gilt, dass Menschen auf der Suche nach Erkenntnis der Blick durch Gedankengebäude verstellt ist. Sie lassen einen freien Blick nicht zu und nur wenn sie sich einreißen ließen, es gelingen könnte, Durchblick zu erhalten, Erkenntnisse zu gewinnen. Ela hielt es für eine gute Idee, einmal ein Buch herauszugeben mit Stadtansichten, die für kurze Zeit durch Abriss ermöglicht wurden und dann durch Aufbau von Neuem auf Dauer neu verstellt würden.
In diesem Fall war es dafür zu spät. Im späten Frühjahr waren zunächst erneut Bagger und andere Baufahrzeuge angerückt und dann zwei riesige gelbe Kräne aufgestellt worden, die zunächst, noch untätig, vollkommen deplaziert erschienen. Dann war große Betriebsamkeit entstanden und in der Baugrube waren zwei, auf einem Teil der Fläche drei Tiefgeschosse errichtet worden. Innerhalb der letzten zwei Wochen waren dann graue Betonwände aus diesem Fundament emporgewachsen und hatten Schritt für Schritt, Tag für Tag die freie Sicht, den Durchblick zunehmend verstellt und schließlich gänzlich verbaut.
Der Bus fuhr langsam wieder an. Der Beton - LKW hatte seine Position eingenommen und der Bauarbeiter hatte sich mühsam von der Straße begeben.
Ela hatte ihre halblangen braunen Haare streng nach hinten mit einem Haargummi zusammen gebunden. Über eine schlichte weiße Bluse, die sie schon seit fast zehn Jahren hatte, trug sie eine leichte hellblaue Jacke mit Reißverschluss, der bis zur Hälfte geschlossen war. Heute hatte sie wie fast immer eine Jeans an, eine der besseren, die noch nicht, wie einige andere, an manchen Stellen Verschleiß zeigten. Der Bus hatte nun die Innenstadt erreicht und kam nun. auf eigener Spur und eigener Ampelphase, wesentlich schneller als der übrige Verkehr voran.
Am zentralen Innenstadt-Platz musste Ela aussteigen, um in eine U-Bahn umsteigen zu können. Der alte Mann vor ihr hatte sich, als der Bus angehalten hatte, erhoben und ging mit unsicheren Schritten, sich sowohl auf seinem Stock abstützend als auch sich an den senkrechten Haltestangen festhaltend in Richtung Ausgang. Fast alle Fahrgäste stiegen aus. Ela sah vor sich den alten Mann mit Mühe die große Stufe auf den Bürgersteig nehmen, stieg dann ebenfalls aus und suchte die Uhr. Nun war angezeigt, sich zu beeilen. Zwar fuhr die U-Bahn – Linie alle sieben Minuten, doch nun schien es aussichtsreich, einen unmittelbaren Anschluss zu erreichen. Klar, als Teenager hatte sie sich einmal für eine Zeitlang umständlich geschminkt. Nun beschränkte sie sich darauf, ab und zu einen dezenten Lippenstift und einwenig Lidschatten zu benutzen. Auch heute morgen, nach dem Anruf in aller Eile, hatte sie sich fertig gemacht und im Bad kurz, ganz kurz, vor dem Spiegel gestanden.
Die Rolltreppe, die zur U-Bahn führte, war voll. Keine Chance, schnell – rechts stehen, links gehen – vorbeizuhuschen. Die richtige Stadtbahn – Linie war bereits angezeigt und gerade als Ela am Fuße der Rolltreppe angelangt war, lief aus der dunklen Röhre mit quietschenden Fahrgestellen die passende Bahn ein. Die Türen öffneten sich, Fahrgäste stiegen aus, darunter ein offensichtlich Wohnungsloser, verwahrlost, mit alten Klamotten, filzigen Haaren, rechts mit einer Rolltasche, vermutlich mit seinem gesamten Hab und Gut, links mit zwei Hunden, die gemeinsam nach vorne zerrten.
Ela fand es nicht schlimm und unangebracht, Menschen in die Gesichter zu sehen. Sie blickte in die Gesichter und versuchte sich vorzustellen, auf welchem Wege sie sich gerade wohl befinden würden. Der Alte im Bus war auf dem Weg zum Arzt, alte Männer sind in der Regel auf dem Weg zum Arzt, und der Nichtseßhafte, der wollte im Sozialamt seine Stütze abholen. Elas Wunsch war es, mehr über den Einzelnen erfahren zu wollen und ihnen nicht nur einmalig kurz, sondern immer wieder begegnen zu wollen. Doch sie war sich der Vergeblichkeit ihres Ansinnens bewusst. Wenn sie an einem Tage 30 Menschen bewusst anschauen würde, würde es in einer Stadt, in der dreihunderttausend Menschen leben, rein rechnerisch zehntausend Tage dauern, bis sie alle Einwohner einmal gesehen haben würde, zehntausend Tage, das sind über 27 Jahre. Nach 27 Jahren hätte sie alle Bewohner einmal zu Gesicht bekommen.
Ela war eine, die Wert auf Zahlen legte. Zahlen lügen nicht, Zahlen sind verlässlich, vieles andere reine Interpretation, reine Spekulation. Sie nahm auf einem der im Vergleich zum Bus zahlreichen freien Sitze Platz. Die Fahrt würde nicht lange dauern. Nur drei Stationen und sie würde in unmittelbarer Nähe des Marienstifts aussteigen können. Natürlich ging ihr die Großmutter, die Oma, wie sie sie stets genannt hatte, immer wieder durch den Kopf. Dreiundachtzig war sie Ende vergangenen Jahres geworden, hatte mit Mühe noch in ihrer eigenen Wohnung wohnen können. Dann, es war Ende Januar gewesen, war sie in der Nacht auf dem Weg zur Toilette gestürzt. Eine Nachbarin hatte sie am nächsten Morgen in einer kleinen Blutlache liegend aufgefunden. Sie war nach dem Sturz offenbar benommen liegen geblieben und dann wieder eingeschlafen. Die Platzwunde am Kopf war dann im Krankenhaus genäht worden. Die Oma war für zwei Wochen noch einmal in ihre Wohnung zurückgekehrt mit nächtlicher Betreuung der Familienangehörigen, die im Wechsel im Besuchszimmer der für eine Person überdimensionierten Wohnung übernachtet hatten. Im Eilverfahren war dann ein Platz im Marienstift besorgt worden, wobei es geholfen hatte, dass die Leiterin des Hauses eine Schulfreundin der älteren Tochter, Elas Tante, war. Normalerweise ging alles nach einer Warteliste, die eine Aufnahme meistens erst nach rund anderthalb Jahren ermöglichte.